Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Dienstag, 13. März 2007
Schlaflos in Barcelona. Kleine Inventur.

Die Zeit rennt. Ein Leben reicht einfach nicht. Ich hoffe die Buddhisten haben Recht, ich benehme mich relativ ordentlich, die Chance als Maulwurf wiedergeboren zu werden, versuche ich so niedrig wie möglich zu halten. Einige Chancen sind vertan. Ich werde keine Ska-Band mehr gründen, das bedauere ich. Ich werde auch kein berühmter DJ mehr, dass wird langsam ein bisschen peinlich mit dem Auflegen in meinem Alter, außerdem habe ich mich mit den Jahren zu einem wahren Musik-Egomanen entwickelt, Null-Toleranz abseits meines edlen, ausgewählten Musikgeschmackes. Gäste des Hauses Paulsen wissen, mit blutenden Ohren, ein Liedchen dazu zu singen.

Menschenscheu bin ich geworden, manchmal muss ich mich innerlich verkleiden um irgendwelche „Events“ zu überstehen. Leider bin ich ein schlechter Schauspieler, ich verstumme und verlasse gedanklich die Veranstaltung, heimlich still und leise. Die Liebste boxt mir dann in die Seite und flüstert: „Paulsen! Reagieren! Da erzählt Dir gerade jemand was.“ Überhaupt. Die Liebste. Sie ist die Liebe meines Lebens. Jetzt auch schon so ein paar Jahre Jahre. So lang erträgt sie den Herrn Paulsen schon, auch dann, wenn ich den Herrn Maulsen gebe, oder wieder mal eine fantastische Idee habe, die in nur 46893 Arbeitsstunden umzusetzen ist und genau diese 46893 Stunden verschwinde ich dann auch in meinem Arbeitszimmer. Wenn ich herauskomme, hört sie sich nochmals 46893 Stunden an, warum die fantastische Idee auf gar keinen Fall umzusetzen ist (tränenreich und wortstark). Danach erklärt sie mir kurz und knapp, wie ich es doch schaffen kann. Und ich schaffe es. Sie erklärt mir leider auch Bügeln, Wäsche waschen und aufhängen, sie erklärt mir die Welt. Gerne mehrmals, sie gibt nie auf. Sie hält mir, ohne je davon zu reden, die Welt vom Hals. Die Liebste spürt mich, weiß wie es mir geht und reagiert, sagt ab, sagt zu, organisiert. Dass wir uns gefunden habe, dass sie mich liebt, das ist das größte Glück meines Lebens. Alles andere wird Nichtig, wenn ich an die Liebste denke.

Ich werde konservativ. Habe gelernt Regeln zu schätzen, Rituale zu mögen. Mein Blick auf die Welt wird immer strenger, mein Blick auf mich selbst wird immer strenger. Ich lasse der Welt immer weniger durchgehen, ich lasse mir immer weniger durchgehen. Ich habe damit meinen Frieden gemacht. Vielleicht ist dass das Schöne am Altern, man muss nicht mehr jeden Scheiß mitzumachen, sich nicht mehr jedem Scheiß aussetzen.

Häuslich bin ich geworden. Entweder schaffe ich es nicht mehr in die Clubs weil ich schon gegen Mitternacht müde bin oder ich finde schlicht niemanden, der mit mir mal kurz durchdrehen will. Haben alle Kinder oder sind trotzdem müde. Die Generation Golf rafft sich höchstens noch zu einer „Depeche Mode-Remember-Night“ auf und da kann ich nicht mal im Wachzustand hin, denn, ich war leider einmal da und da waren Männer, die rosa Pullover über die Schulter geknotet hatten, und Frauen denen der dicke Schmink-Kitt in größeren Partikeln von den erhitzten Wangen flog, während sie sich selbstvergessen zu „Boys say go!“ drehten. Es kommt immer was im Fernsehen.

Es gibt noch soviel zu tun! Ein Leben reicht nicht? Ich hoffe doch, denn: der Baum ist noch nicht gepflanzt. Wir wohnen zur Miete. Und Kinder! Auch noch nicht gezeugt, wir hätten endlich einen Grund zuhause zu bleiben. Vorher und nachher! Schön ist das Leben trotz der vielen, noch unentdeckten Möglichkeiten. Ich bin Freiberufler, ich werde eventuell mit Magengeschwüren sterben (siehe auch: Onlinebanking/Kontenübersicht) aber ich sterbe wenigsten als freier Mann. Als dicker, freier Mann. Ich will unbedingt noch richtig dick werden, durch sensationelles Essen in sensationellen Restaurants. Ich will Gérard Depardieu-dick werden, nicht Wildecker Herzbuben-dick. Die Liebste ist jetzt schon zumindest mit Ersterem einverstanden, sie liebt mich wohl. Und das ist eigentlich der beste Grund auf all die Jahre noch mal mindestens die gleiche Anzahl an Lebensjahren drauf zu legen.

Halbzeit?
Entschuldigung, ich bin noch nicht mal 40. Und wenn schon, warum denn nicht. So Gott will, gehe ich sogar in die Verlängerung! Gründe eine erfolglose Ska-Band, löse Günter Discher ab, höre mir die Musik andere Leute an, lerne wieder zuzuhören, entwickle fantastischen Ideen die sich in weniger als 30 Minuten umsetzen lassen, bemühe mich beim Bügeln, Wäsche waschen und aufhängen, gehe endlich mal Pogo tanzen auf einer „Depeche Mode Remember-Night“ und dann pflanz ich halt den blöden Baum (die Früchte sollten sich allerdings zur Schnapsbrennerei eignen), zahle weiter Miete und probier auch dieses Kinder-Dingens. Ich hol jetzt mal meine Sonnenbrille. Drücken Sie mir die Daumen.

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Sonntag, 11. März 2007
Weltrekordsonntag

Heute Mittag saß ich beim Mittagessen am Hafen von Tarragona und studierte aus Langeweile die Rückseite meiner Bierflasche. Meine Katalan-Kenntnisse reichten aus um zu erahnen, dass die lokalen Biermarktbeherrscher und der örtliche Fußballverein "Nàstic de Tarragona" irgendein größtes Dingenskirchen der Welt… irgendwie so eben. Und zwar am 11. März in Tarragona. Das ist ja hier und heute! Ich aß schnell auf, ging los und kam gerade noch rechtzeitig:

Vor zwei Stunden gelang der Weltrekord. Meine Damen und Herren, der derzeit längste Fußball-Fanschal der Welt!
58 Kilometer lang.

Emsige Helfer wickelten den längsten Schal der Welt dann wieder auf. Schöne Symbolik: der Schal wird nun in viele kleine Schals zerschnitten und an die Fans verhökert, die dann alle etwas um den Hals tragen, das mal Teil eines Ganzen war und im Stadion wieder zum Teil eines Ganzen wird.

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Freitag, 9. März 2007
Von heuchlerischen Äpfeln, einem verpassten Essen mit Alex Kapranos und der Notwendigkeit jetzt Chinesisch zu lernen


Illustration:Andy Knowles, "Sound Bites"-Buchcover

Bei der Wahl meiner Zigaretten bin ich Pedant. Ich rauche nur die eine Marke und die gibt es hier nicht. In meinem Reisekoffer liegen heute noch neun Päckchen Zigaretten, eines für jeden Tag, ich muss noch neun Tage hier rauchen, dann bin ich wieder zuhause, wäre ich Nichtraucher müsste ich im Kalender nachsehen. Was es hier aber gibt, sind Äpfel. Im Supermarkt entdeckte ich heute eine durchsichtige Plastiktüte mit rotwangigen Äpfeln. Die Tüte war bedruckt mit der Aufschrift: „knackig und saftig“. Na so was, dachte ich, wenn mich hier schon mal jemand auf Deutsch anspricht, sollte doch gemeinsamen Wegen nichts im Wege stehen, und ich lud die heimatlichen Äpfel in den Einkaufswagen. Die spanischen Äpfel schauten uns beleidigt nach, uns war das egal. Zurück in meiner kleinen Gastarbeiter-Casita überprüfte ich das Säckchen genau. Woher mochten die Äpfel wohl stammen? Vielleicht vom schönen Bodensee, oder gar aus dem Alten Land bei Hamburg? Nix da. Die ganze Tüte voll mit Italienern. Auf Deutsch beworben, in einem katalanischen Supermarkt. Eben wollte ich den ersten Apfel werfen, da fiel mir ein, dass ich hier in Spanien gerade mit einem deutschen Team Kochbücher für einen britischen Verlag produziere, die dann in China gedruckt und anschließend in Gesamtbabylon verhökert werden.

Vorhin dann noch einen Anruf auf dem Handy: ob ich vielleicht mal einen Tipp hätte, wo man in Hamburg mit Alex Kapranos essen gehen könnte. Kreisch! Alex Kapranos? Mutter Engländerin, Vater Grieche, Sänger einer schottischen Band Namens „Franz Ferdinand“. Liest am 13. März in Hamburg, im Machtclub im Malersaal (Schauspielhaus) und hat danach eventuell Hunger. Er war mal Koch und schreibt kulinarischen Kolumnen für den britischen „Guardian“ die jetzt in deutscher Übersetzung als Buch bei KIWI erscheinen. Vom Essen auf Tournee erzählt er in "Sound Bites", beschreibt wie die Welt schmeckt, abseits der immergleichen Bühne. Ein Jahr lang hat er aufgeschrieben, was er unterwegs gegessen hat. Mit wem und wo. Tolle Sache. Und der Haken?

Ich bin nicht da, ich wäre gerne dort gewesen, ich bin hier, ich rauche an diesem Tag Zigarettenpäckchen Nummer Vier und wahrscheinlich regnet es mal wieder (hier regnet es ständig. Wie in Deutschland!) und Abends gibt es irgendein lieblos zubereitetes Drecksessen in einer „Tapas-Bar“, in der mich kein Mensch versteht, weil ich die falschen Fremdsprachen gelernt habe. Die Wahl der richtigen Fremdsprache ist sehr wichtig, es gibt nämlich auch falsche Fremdsprachen, wusste ich auch nicht. Zur Zeit wird empfohlen Chinesisch zu lernen: „Mandarin! Hochchinesisch! Wichtig ist die Wahl des chinesischen Kindermädchens, nicht dass meine Tochter einen Garküchenslang abbekommt“ erklärte neulich ein amerikanischer Aktienhändler in einem Beitrag der britischen BBC, der im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

Keine Ahnung wohin Herr Kapranos letztendlich am Dienstag ausgeführt wird. Vom Chinesen habe ich abgeraten, das können die Chinesen bei Alex Kapranos zuhause einfach besser, trotz des Garküchenslangs. Ich hätte ja für ihn gekocht. Königsberger Klopse. Oder Labskaus.
Jetzt schnippel ich mir erstmal einen heuchlerischen italienschen Apfel zum katalanischen Käse mit französisch anmutendem Baguette, dann bestell ich Kapranos Buch und dann kuck ich mal was in chinesischen Blogs so geht.

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Mittwoch, 7. März 2007
Virtuelle Literaten

Sandra Uschtrin ist zu preisen. Seit Jahren betreibt Sie unter uschtrin.de einen Informationsservice für Autorinnen und Autoren, u.a. kann man dort kostenfrei die Zeitschrift "Federwelt" und einen Newsletter abonnieren der regelmäßig über sämtliche Literaturpreis-Auschreibungen im deutschsprachigen Raum informiert. Nicht umsonst wurde in Praschls Geheimblog schon mehrfach ausführlich über Frau Uschtrin berichtet.

Nicht vorenthalten möchte ich Ihnen zwei Ausschreibungen aus dem neusten Newsletter, die mein Herz erfreut haben und davon zeugen, dass auch die Literatur sich immmer häufiger auch im virtuellen Raum findet. Los geht es mit einer Ausschreibung des Bremer Literaturhauses:

http://www.uschtrin.de/stip_bremen_writer.html
= writer in residence 2007 im Literaturhaus Bremen
dreimonatiges Aufenthaltsstipendium im virtuellen [!] Literaturhaus Bremen; Bewerbung bis zum 31. März 2007; Dotation: "Das Stipendium ist mit
2.000.- Euro dotiert."
"Gefördert werden Autorinnen und Autoren, die bereits auf Veröffentlichungen verweisen können und die ein literarisches Projekt auf der Website des Literaturhauses realisieren möchten. Schwerpunkt des Projektes soll die Auseinandersetzung mit dem virtuellen Medium sein. Dabei werden die partizipatorische Nutzung des Netzes und der Aufbau einer Community rund um das literarische Projekt angestrebt. Es sollte die Bereitschaft bestehen, mit Schülern und Studierenden zusammen zu arbeiten.
Der Aufenthalt des writers in residence im virtuellen Literaturhaus beginnt am 01. September und endet am 30. November 2007. Das Stipendium bietet
darüber hinaus einen vierwöchigen Aufenthalt im "kunst:raum sylt quelle" auf der Insel Sylt an."

Diese Auschreibung hat Sandra Uschtrin wohl inspiriert, auch selbst einmal eine Ausschreibung in eigener Sache auszuschreiben, sie reagierte sofort. Klingt sehr gut, finde ich:

http://www.uschtrin.de/stip_uschtrin_slave.html
(funktioniert leider erst ab 1. April) = slave in residence 2007 im Uschtrin Verlag drei- bis maximal sechsmonatiges Aufenthaltsstipendium im virtuellen Uschtrin Verlag; Bewerbung mit den üblichen Unterlagen (Vita, schönes Foto, Referenzen etc.) bis 23. März 2007; Dotation: Das Stipendium ist mit 200 Euro dotiert. (Das sollte reichen, schließlich geht es um Literatur.) "Gefördert werden Autorinnen und Autoren mit sehr guten Programmierkenntnissen (php, cms etc.), die ein literarisches Projekt auf der Website des Uschtrin Verlags realisieren möchten (z. B. Relaunch der
Website). Schwerpunkt des Projektes soll die Auseinandersetzung mit dem virtuellen Medium sein. Dabei werden die partizipatorische Nutzung des Netzes und der Ausbau der Community rund um das literarische Projekt angestrebt. Der Aufenthalt des slave in residence im virtuellen Uschtrin
Verlag beginnt ab 1. April 2007 (Präsenzpflicht). Das Stipendium bietet darüber hinaus - nach erfolgreichem Projektabschluss - einen einwöchigen
Aufenthalt (in der besonders reizvollen Nachsaison) auf der Insel Sylt an, siehe dazu: http://www.campingplatz-westerland.de. Die Kosten hierfür (Zelt) können auf Antrag anteilig übernommen werden. Bevorzugt wird jedoch
der/die (solvente) BewerberIn, die für diesen Aufenthalt keine wie auch immer geartete Zuwendung benötigt. Es empfiehlt sich daher, der Bewerbung eine Einkommensbescheinigung beizufügen."

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Dienstag, 27. Februar 2007
Warum ich auf der Autobahn von Hamburg nach Hannover, kurz vor der Raststätte Allertal, immer dankbar winke.

Auf der Autobahn von Hamburg nach Hannover, kurz vor der Raststätte Allertal, da ist ein Stückchen des Jägerzauns nicht ganz so verwittert wie das übrige Metallgeflecht, da sind drei Holzpflöcke nur leicht ergraut und jedes Mal wenn ich daran vorbei fahre, winke ich den jungen Holzpflöcken zu, erfreue mich am matten Leuchten von vier Metern Maschendraht und der Tatsache, dass wir alle noch am Leben sind. Ich fahre nicht oft nach Hannover, gestern hatte ich dann mal wieder Gelegenheit dankbar zu winken und mich zu Erinnern, an diese Fahrt nach Hannover vor etwas mehr als vier Jahren.

Wir fuhren auf eine Party. Nach Hannover. Party und Hannover, das muss sich nicht ausschließen, nette Leute hatten eingeladen und ich packte die Hamburger in mein Auto, Sabine und Andreas, die Turteltäubchen nach hinten, neben mir saß Timo der Automechaniker, den kannte ich nicht, aber wir kannten die selben netten Leute in Hannover. Andreas schlief sofort auf Sabines Schoß ein und Sabine zählt Bäume. Ich schmiss eine CD in den Player und wir waren schon kurz vor Hannover, da sprach Timo: „Dein Auto klackert.“ Ich schaltete die Musik aus und jetzt hörte ich es auch, das Auto klackerte. Wenn ich langsam fuhr leise, wenn ich schnell fuhr lauter. Ein Fall für Timo den Automechaniker, dachte ich, verlangsamte und fragte ihn mal so, was denn so ein Klackern bedeute. Timo wusste es nicht: „Kommt irgendwie von vorne, ausm Motorraum, kann alles Mögliche sein.“ Timo war wirklich ein richtiger Mechaniker merkte ich, nix sagen und wenn der Kunde vom Hof ist, den Kostenvoranschlag schreiben.
Noch vier Kilometer bis zur nächsten Raststätte, das ist zu schaffen dachte ich, ignorierte das bedrohlich lauter werdende Klackern und fuhr mit Hundertzwanzig, auf der mittleren Spur, der rettenden Tanke entgegen. Timo starrte derweil auf die Motorhaube, ob da schon was rauche oder so. Ich starrte aus meinem Seitenfenster, ein kräftiger Ruck, ein goldener Funkenregen, das Auto neigte sich nach vorne links. Und driftete nach rechts ab.
Das ist jetzt kein Witz: als Erstes setzte ich den Warnblinker. Dann bremste ich sehr vorsichtig ab, im Augenwinkel sah ich ein Vorderrad, es musste meines sein und es fuhr ungebremst weiter Richtung Hannover. Unterstützend lenkte ich den Wagen auf seinem Weg über die Kriechspur, sah in den Rückspiegel, ja, die hinter mir sahen auch die Funken und hurtig ging es durch einen Graben, der Jägerzaun warf sich wie ein Netz über den Wagen, ächzend fielen verwitterte Holzpflöcke, einer übergab sich in die Windschutzscheibe. Sabine rief: „Ohgottohgottohgott“, ein Endlosloop, davon wurde Andreas wach und sah erstmal einen Zaun auf sich zukommen.

Dann Stillstand, Stille.
Nun geht ja ein jeder mit so einer Situation anders um. Ich erkundigte mich nach Verletzten, allen ging es soweit ganz gut. Andreas stieg aus dem Wagen, „ich muss mal pinkeln.“ Durch die zerborstene Frontscheibe sah ich ihn den waldigen Hügel hinaufsteigen. Sabine rief: “Ohgottohgottohgott...“ Und Timo moserte: „Scheiße, ich wollte einmal so nen Airbag aufgehen sehen.“ Er erklärte mir vorwurfsvoll, dass wir höchstens noch Tempo dreißig draufhatten, beim Aufprall, sonst hätte der Airbag nämlich ausgelöst.
Ich stieg aus, vor uns sah ich viele Autos auf dem Standstreifen, Menschen rannten auf die Unfallstelle zu, einer stülpte sich eine Rettungsweste über, erreichte den Wagen als Erster und fragt atemlos nach den Verletzten. Ungläubig sah er mich an, als ich ihm meine Fahrtgäste vorstellte: “Waaas, Sie alle waren in diesem Auto?“

Plötzlich wurde mir doch schwindelig, ich musste mich ein bisschen am Wrack festhalten. Sabine hatte sich erholt, rief per Handy die Polizei und dann den ADAC. Andreas stolperte aus dem Wald und schloß den Reisverschluss seiner Jeans. Ein gut gekleideter Herr betrat die Szene, fragte nach dem Fahrer, begrüßt mich und sprach: „Entschuldigung, ich glaube das ist ihr Autoreifen.“ Wie ein Kellner, der einem Gast eine vergessene Jacke hinterherträgt, überreichte er mir den Reifen und stellt sich vor. Es war der Chef der Allianzversicherung in Berlin und mein geflohenes Rad war in die Seite seines Wagens gefahren.
Der Mann vom ADAC war sehr freundlich, obwohl ich gar nicht im ADAC war. Aber das hatte Sabine schon für mich durchgeplant: “Wir sagen einfach du bist mein Mann.“ In der Fahrerkabine durften wir mitfahren, er schleppte uns und das Auto zur Raststätte Allertal und Sabine zog ihre ADAC Mitgliedskarte aus dem Portemonnaie. Der Fahrer staunte nicht schlecht, als er das Bild von Andreas in Sabines Geldbörse entdeckt und ich fühlte mich plötzlich ziemlich liberal.

Der ADAC hat Sabine und mich nicht als Lebenspartner anerkannt, da wir in verschiedenen Wohnungen leben. Mein Wagen war noch zu retten. Den Zaun und den Wagen des freundlichen Allianzchefs hat meine Versicherung bezahlt. Die Ursachenforschung liegt im Dunkeln. Entweder hatten meine zahlreichen Feinde Nachts die Schrauben gelöst, oder die Werkstatt war es, beim Wechsel von Winter- auf Sommerreifen. Ich habe die Werkstatt eines großen Automobilherstellers verklagt. Mein Ansinnen stand unter keinem guten „Stern“. Mein Anwalt erhielt nicht nur Namen und Arbeitszeiten, der dreifach prüfenden Belegschaft, nein, auch Kopien, der letzten TÜV-Untersuchung der Schraubendreher lagen bei.
Bleiben also die zahlreichen Feinde.

Die Party war scheiße. Wir waren alle innerhalb von einer Stunde betrunken, unserer Erzählung löste eine Lawine von Unfallerlebnis-Erzählungen aus und als keiner mehr einen Unfall zu berichten hatte, ging es an die Unfälle aus zweiter Hand.

Sabine und Andreas haben geheiratet, ihre Tochter, die damals mit im Wagen saß, was ich nicht wusste, ist vier Jahre alt und hat einen zweijährigen Bruder.

Timo wartet noch immer auf den Airbag.

Und ich kann gar nicht aufhören zu winken, auf der Autobahn von Hamburg nach Hannover, kurz vor der Raststätte Allertal.

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Montag, 26. Februar 2007
Herr Paulsen hat die Glotze an: Poetry Slam kommt jetzt im Fernsehen


Foto: slamburg.de

Sonntag. Mitternacht. Hach bin ich aufgeregt, nein, nicht wegen der Oscar-Nacht, Poetry Slam kommt ins Deutsche Fernsehen! Als ich 2002 mit dem Dichterwettstreiten begann, wähnte ich diese Kunstform bereits verstorben, aber nein, es waren schöne Jahre und während ich mich schon im Ruhestand befinde, explodiert die Szene derart, dass es sogar ein paar Splitter ins Fernsehen haut. Schöner Anblick: da sitzt die buttermilchfrische Jugend in der Hallelujah-Halle zu Köln und lauscht Herrn Thadeusz der keine Sendezeit hat um zu erklären was denn ein Poetry Slam ist, sich aber leider viel Zeit für "lustige" Interviews mit den Protagonisten des Abends nimmt. Dann beginnen die Spiele, drei Minuten Bühnezeit für die fünf angetretenen Slam Poeten und es wird die Frage geklärt, wie denn bitte, mehr oder minder literarische Vorträge, ins Fernsehformat zu transportieren seien. Literatur und Fernsehen vertragen sich nämlich nur im Gespräch (na, gut, mal abgesehen von der unsäglichen „Wickerts Bücher“-Sendung). Sobald aber jemand was vorliest wird der Bilderrausch zum Standbild und wen es nur so mittel interessiert, der entschlummert schnell.

Keine Chance in der Hallelujah-Halle, die „Mariachis“-Band spielt auf, die Slammer setzen zu entfesselten Wortstürmen an, es regnet Buchstabensuppe über die Wände, Diskolichter drehen durch und die Technik arbeitet mit lustigen Gimmicks aus Photo-Verfremdungsprogrammen. Karsten Hohage („Grohacke“) aus Heidelberg überzeugt mit einem geschmeidigen Gedicht, so könnte es weiter gehen. Dann kommt aus Berlin Dörthe Eickelberg mit Fleischfresser-Bashing-Prosa und man wähnt sich leider im Quatsch-Comedy-Club. Anselm Neft aus Bonn regt sich auch auf und zwar über „Der kleine Prinz“, das Buch hab ich nie gelesen und so rauscht sein Beitrag rückstandsfrei an mir vorbei. Mein Fehler. Dann endlich: Dalibor! Ich liebe Dalibor. Der Mann aus Frankfurt am Main gehört für mich seit Jahren zu den besten Slammern Deutschlands, ein wortgewaltiger Wortakrobat, der auch die leisen Töne kennt und bei dessen Vorträgen sich das Einschalten des Gehirns empfiehlt. Denis Schüßler gewann die Darmstädter Dichterschlacht im Oktober 2006 und Thadeusz wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Schüßler der jüngste Slammer des Abends ist. Schüßler setzt auf Drama und Theatralik, brüllt und schreit und ich verstehe wenig.

Am wenigsten aber verstehe ich die Abstimmung per Applaus. Schon klar, für eine ordentliche Punktevergabe fehlt die Sendezeit, vor dem Fernseher ist aber nur gleichförmiger Applaus für alle Slammer zu hören, die feinen Unterschiede entziehen sich den Gehörgängen der Zuschauer zuhause an den Geräten. Jedenfalls gewinnt Karsten Hohage und schwupps ist die Sendung vorbei.

Ich gestehe, ich hatte große Sorge, ob Poetry Slam im Fernsehen funktioniert. Und nein, es funktioniert natürlich nicht, ist aber trotzdem unterhaltsam und macht hoffentlich mehr Menschen Appetit auf einen Besuch beim Live-Slam ihrer Stadt, denn da brennt wirklich die Hütte. Das wäre dem Poetry Slam zu wünschen.

Neun Sendungen sind geplant, die nächste Sendung ist am Sonntag 04. März, um Mitternacht im WDR.

Alles zur Sendung, Infos über Poetry Slam, Clips und Voting-Möglichkeiten:

http://www.wdr.de/tv/poetryslam/

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Donnerstag, 22. Februar 2007
KAFFEE.SATZ.LESEN 37 im Februar – „Überlänge“


Foto: AxelK

Nur vier statt der gewohnten fünf Gäste stehen an diesem Nachmittag auf der Bühne von KAFFEE.SATZ.LESEN. Sparmaßnahmen jetzt auch hier?
Nein, denn der Hamburger Autor Lars Dahms liest an diesen Nachmittag für Zwei. Erstmals wird seine mit dem Hamburger Literaturförderpreis 2006 ausgezeichnete Erzählung „Im Okavango-Delta“ in voller Länge zu hören sein. Probleme mit der Länge hatte auch der Autor Stefan Kraschon, der 2006 den 1. Hammer Erzählwettbewerb fast gewonnen hätte, seine Erzählung „Aschberg“, war allerdings wesentlich umfangreicher, als die vom Wettbewerb geforderte Höchstlänge. Nicht lang genug können die Platten der Hamburger Band „Ich jetzt täglich“ sein. Sie stellen ihr neues Album „Allee Sorgenlos“ vor. Stevan Paul wird sicherlich nicht verlängern. Er ist Mitveranstalter von KAFFEE.SATZ.LESEN und muss mit seinen kulinarischen Erzählungen schon alleine deshalb vorbildlich im Zeitplan bleiben.

Lars Dahms *1965


Foto: privat

in Hamburg, hat als Nachtwächter, Reinzeichner, Schichtarbeiter bei der Post und Kupferdrucker gearbeitet. Designstudium in Hamburg, seit 1995 Freiberufler. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien sind u.a. erschienen: "Jörg - Die frühen Jahre" (Comic, 1993), "Neujahrsbuch" (2004). Preise: Foglio-Preis für junge Literatur 1997, Förderpreis für Literatur der Freien und Hansestadt Hamburg 1998. Und auch 2006 erhielt Lars Dahms für seine Erzählung „Im Okavango-Delta“ einen Hamburger Förderpreis für Literatur. Bei KAFFE.SATZ.LESEN wird diese hochkomische Reisebeschreibung der etwas anderen Art erstmals zu hören sein.

Ich jetzt täglich *2004


Foto: Ich jetzt täglich

Die Hamburger Band ist dem KAFFEE.SATZ.LESEN Publikum nicht unbekannt und meldet sich mit ihrem Anfang Februar erschienenen Album „Allee Sorgenlos“ zurück. Der harte Kern (Lutz Nikolaus Kratzer (Gesang/Gitarren) und Mark Matthes (Geige)) hat sich um Bassisten Thomas Lebioda und Drummer Jonas Honisch erweitert. Karsten Deutschmann produzierte das neue Album. Die Zeit zwischen dem Vorgängeralbum "Stilfragen" (2004) und "Allee Sorgenlos" (2007) verbrachte die Band mit aufwändigen Kurzfilmprojekten (gekürt u.a. mit einem Feature auf 3Sat „Kulturzeit“), Konzerten in U-Bahnschächten, auf dem Fusion Festival und in üblen, gefährlichen Clubs zwischen Flensburg und Zürich. Jetzt kommen sie nach Hause.
http://www.myspace.com/ichjetzttaeglich
http://www.ichjetzttaeglich.de/

Stefan Kraschon *1967
Ist Leiter der Statisterie im Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Vergangenes Jahr nahm er mit seiner grandiosen Erzählung „Aschberg“ am 1. Hammer Erzählwettbewerb teil. Die Jury war einhellig begeistert. Leider sprengte der Text die vorgeschrieben Länge von fünf Leseminuten erheblich. Bei KAFFEE.SATZ.LESEN bekommt Stefan Kraschon 15 Minuten Zeit und das Publikum die Chance, den heimlichen Sieger des 1. Hammer Erzählwettbewebs kennen zu lernen.

Stevan Paul *1969


Foto: Taja Stapelfeldt

lebt in Hamburg. Der gelernte Koch arbeitet heute als Foodstylist, Redakteur und Autor für Zeitschriften, Magazine und Buchverlage. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien erscheinen seine kulinarischen Kurzgeschichten seit 2006 regelmäßig in Schöngeist – Magazin für kunst_leben_denken
http://www.schoengeist.at/

KAFFEE.SATZ.LESEN 37 im Februar – „Überlänge“

mit
Lars Dahms | Stefan Kraschon
Ich jetzt täglich | Stevan Paul |

Sonntag, 25. Februar 2007,
Baderanstalt, 16:00 Uhr
Einlass 15:00 Uhr
Hammer Steindamm 62
neben S-Bahnhof Hasselbrook
im Hinterhof, 5. Stock.
Eintritt 5 Euro.

http://www.redereihamburg.de/
http://redereihamburg.wordpress.com/

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