Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Freitag, 28. Juli 2006
Próxima parada: Wahnsinn


Nicht schön aber immer öfter: Ekel-Paprika.

Es ist ein Kampf, Mann gegen Natur. Und es gibt nur Verlierer. Für meine Arbeit brauche ich beste Produkte und ich bin es gewohnt, Nahrungsmitteln vor der Kamera ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, ihr Leben zu verlängern. Hier aber gibt es nur Matsch und Gammel, auf den Märkten, in den Shoppingcentern. Ein süßlicher Geruch der Verwesung führt einen in die Gemüseabteilung, aus trüben Augen starren kiemenverschleimte Fische mit ledriger Haut aus dem Eis, nur Fleisch scheint ewig zu leben unter straffen Plastikhauben. Einige Gemüse erwecken im Laden durchaus noch den Eindruck am Leben zu sein, spätestens am Set aber geben sie auf, müde welken die erschöpften Kräuter, Tomaten offenbaren ihre matschige Seite, gestern erbrach eine Melone ihr Innerstes in meine Küche. Es ist sehr schwierig unter diesen Bedingungen Meilensteine der Foodfotografie zu produzieren, wir haben hier ein Problem. Schuld? Ach, was ist schon Schuld, wer ist schon schuld. Tagsüber haben wir hier 38 Grad, Nachts 35 Grad, was soll denn da noch wachsen, wer will denn da noch Kühlketten aufrecht erhalten.

Die Lösung unseres Problems liegt im, mittlerweile viel beschriebenen, Örtchen Sitges. Dort unterhält der Gemüsehändler des Teufel einen Laden, unbeeindruckt von den Umständen, gibt es dort alles (allein neun Sorten Tomaten) und alles in bester Qualität. Der Gemüsehändler des Teufels hat sogar so exotische Dinge wie Bachkresse, Zuckerschoten, Feldsalat, während sonst überall nur die lebensnotwendigsten Gemüse (Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln) vergammeln. Und so kommt es, dass ich alle zwei Tage meinen Feierabend in seinem Laden verbringe. Schweigend kassiert der Gemüsehändler des Teufels, die Ware lässt er sich feist grinsend in Gold aufwiegen.

Gestern dann, ich stehe gerade an der Kasse, der Gemüsehändler des Teufels packt orangefarbenen Paprika, Rauke, Frisée, Erbsenschoten und zwei Forellen-Birnen in meinen Korb und sagt: „macht acht Kilo Gold“, da beginnt bei mir eine dreistufige Super-Verblüffung. Verblüfft sehe ich zunächst in meinen Geldbeute, er ist leer. Ich bitte den Gemüsehändler des Teufels, die Sachen für mich aufzubewahren, ich hole nur schnell Geld vom Bankomaten. Er lächelt, er weiß, ich komme wieder. Verblüffung Nummer zwei dann auf der Strasse, ich habe auch keine Bankkarten. Hastig öffne ich das Münzenfach, da sind vierzig Cent drin. Verblüffung Nummer drei, als mir dämmert, ich habe nicht mal die 1,30 Euro für die Rückfahrt mit der Bahn. Ich bin pleite in Sitges und habe keine Ahnung, wie ich nachhause kommen soll. Und: ich brauche morgen die Ware!

Die Optionen Trampen und Schnorren verwerfe ich. Schwarzfahren! Schwarzfahren geht aber nicht. Da sind so Drehkreuze am Bahnsteig, zusätzlich bewacht von einem griesgrämigen Bahnhofswärter. Der wacht und wechselt notfalls großes Geld, ha ha.
Taxi. Ich nehme ein Taxi. Es muss schnell gehen, denn der Gemüsehändler des Teufels schließt in einer Stunde seinen Laden. Ich muss also zurück in mein Dorf, Geld holen, dann den letzten Zug zurück nach Sitges nehmen, was heißt hier nehmen: erwischen!

Der ältere Herr lässt seufzend die Glasreinflasche sinken, den Fensterlappen faltet er in Zeitlupe zusammen, langsam öffnet er die Fahrertür. Irgendwann fährt er tatsächlich los, er fährt mit 20 km/h durch Sitges. Ich kann das Tachometer von der Rückbank aus genau sehen: 20! Der ältere Herr brummelt dabei unentwegt vor sich hin, manchmal ist kurz eine Melodie zu erkennen, dann wieder brummelt es monoton. Stöhnend lasse ich mich in den Sitz fallen und schließe die Augen. Ich fühle mich wie Feldsalat in einem spanischen Supermarkt. Da! Die Autobahn, er beschleunigt. 30. 40. Jaaaa!...40. Der ältere Herr fährt mit Tempo 40 auf der Autobahn. Ich verliere die Beherrschung über meine Zunge, es bricht aus mir heraus: „Boaaahhh, ein bisschen schneller können Sie jetzt aber schon fahren, meine Güte, Alter, das gibt’s doch alles gar nicht, Kacke!“ Der alte Herr kennt das ja mit dem "Vor sich hin brummeln" von sich selbst und beachtet mich gar nicht. Mir ist, als habe er jetzt tatsächlich ein Liedchen auf den Lippen.

30 Minuten dauert die Fahrt, die sonst in 20 Minuten zu schaffen ist und ich habe Zeit, darüber nachzudenken, warum denn mein Geldbeutel eigentlich leer ist. Mir dämmert was und zwar die eigene Blödheit. Vor zwei Tagen war ich nach der Arbeit am Strand, vorher habe ich alle Karten und das meiste Geld herausgenommen, 5 Euro nahm ich mit, für ein Bier an der Strandbar. Es waren dann wohl doch zwei Bier. Und wenn jetzt irgendein unsympathischer Klugscheißer in den Comments anmerken möchte, ich hätte doch einfach nur fünf Euro mitnehmen und den Geldbeutel zuhause lassen können, dann drohe ich jetzt schon mal mit, mit, mit...Nichtbeachtung.

Schweiß gebadet erreichen wir mein bescheidenes Casita, „Momentido!“, rufe ich dem älteren Herrn zu, öffne das Gatter, die Wohnungstür, stürze hinein und bemerke: ich habe keine Ahnung wo ich Geld und Karte vorgestern hin gesteckt habe. Erstmal werfe ich wahllos Hemden, T-Shirts und Hosen in die Luft, das nütz nichts, hilft mir aber beim Denken. Draußen hupt der ältere Herr. Jetzt hat er es eilig. Im Kleiderberg dann tatsächlich die Erkenntnis: Geld und Karte befinden sich in meinem Sakko, dem einzigen Kleidungsstück dass gerade nicht auf dem Fußboden liegt. 18 Euro bezahle ich für die 30 minütige Fahrt. Ja, genau, gut aufgepasst, das gibt es auch für 1,30 Euro und in sechs Minuten, mit der Bahn. Und die fährt, in genau drei Minuten nach Sitges. Ich renne den Berg hinunter zum Bahnhof. In meinem Dorf gibt es weder Drehkreuze noch Bahnhofswärter, alle haben hier Mitleid mit uns, die Flucht aus dem Dorf ist immer gratis. Da es pfeifft, der Zug kommt, alles wird gut! Próxima parada: Sitges.

Gerne hätte ich das Gesicht des älteren Herrn gesehen, als ich in Sitges aus dem Bahnhof komme, der ist aber wohl noch eine Weile unterwegs. Der Gemüsehändler des Teufels lächelt wissend als ich die Ware abhole. Nach soviel Ärger, denke ich mir, habe ich mir ein Abendessen verdient. Mit Tüten beladen nehme ich an einem kleinen Tisch vor dem „Cap de la Villa“ platz und bestelle eine Pizza Caprixosa. Zugegebenermaßen, eine der besten Pizzen meines Lebens. Ein fast weißer, knuspriger Teig, hauchdünn, belegt mit Sobrasada, luftgetrocknetem Schinken, fetten Oliven, milden Anchovis und würzigem Büffelmozarella. Ach herrlich, so wurde alles noch gut. Das kann doch nicht sein, dass alles noch gut wurde?
Genau.

Plötzlich fällt etwas in mein Weinglas. Und noch was und noch was und auch auf die Pizza fällt was, es fällt was, was es eigentlich gar nicht geben darf, nicht geben kann hier, nicht jetzt jedenfalls, es fällt Regen. Es regnet. Es regnet in mein Abendessen.
Ah, gut, sie rollen die große Markise aus! Mein Tisch ist der einzige Tisch außerhalb der schützenden Markise.

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