Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Dienstag, 18. April 2006
Vom Dauern der Dinge

Manche Dinge dauern einfach. Feiner Käse, edle Weine, wichtige Entscheidungen und Herzensangelegenheiten sind nur einige der vielen Dinge, die Zeit brauchen. Auch diesen Blog-Eintrag zu lesen, wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Dass ich allerdings 15 Jahre brauchen würde um bei meinem Lehrherren essen zu gehen, dass erstaunte mich selbst. Ich habe in den letzten Jahren bei unzähligen Köchen gegessen, immer wissend, dass der eine Restaurantbesuch irgendwann kommen würde. Sie mögen das für seltsam halten, ich nenne es tiefen Respekt, gepaart mit überzogener Bescheidenheit, die mir fünfzehn Jahre den Besuch in Monsieurs Restaurant unmöglich machten. Mein Bruder beschrieb das Verhältnis zwischen Monsieur und mir einmal als schwierige Vater-Sohn-Beziehung. Da mag er Recht haben.

Alles was aus mir geworden ist, der, der ich heute bin, alles fand seinen Anfang in der Küche von Monsieur. Von ihm lernte ich nicht nur zu kochen, ich entdeckte die bedingungslose Liebe zur Kulinarik, er weckte die kochende Begeisterung in mir und vermittelte nebenbei erfolgreich Werte wie Disziplin, Ausdauer und Respekt. Respekt vor den Produkten, vor der Natur, den Menschen. Ende der Achtziger war seine Küche das Epizentrum einer neuen Kochbewegung und ich war mittendrin.

Die Küche in Deutschland war auf „Nouvelle Cuisine“, Monsieur war das nicht genug, er kochte euro-asiatisch, er trat den jämmerlichen Frankreichgläubigen, mit ihren fitzeligen Miniaturen jeden Tag in den Arsch. Miso, Wasabi, Uhlua, Mai-Mai, bei Monsieur gab es alles und alles zehn Jahre früher. Der Mann war Gott und alles blickte in seine Küche, in dieser Zeit. Nach einer achtwöchigen (!) Probezeit („ich trau Dir nicht Paulsen, mach doch noch mal eine Woche“), war ich aufgenommen, Lehrling, in den heiligen Hallen des Monsieur. Er wuchtete ein halbes Kilo Bewerbungen auf den Tisch, sagte: “Das sind nur die von dieser Woche, (Kunstpause) du kannst anfangen.“
Er war der König, seine Lehrlinge waren Königskinder! Schon nach einem halben Jahr, es war das härteste meines Lebens, stand ich in der Küchenordnung über jedem ausgebildeten Koch, er verzieh jedem Witzigmann-Schüler alles, uns Lehrlingen nichts. Er schleifte uns durch eine Ausbildung, die an Härte und Menschlichkeit nichts fehlen lies.

Sein Einsatz für die Kulinarik war gänzlich und bedingungslos. Und er war Künstler, er selbst würde sich nie so beschreiben, aber Kochen, das war für ihn ein dringend zu erlernendes Handwerk, nur um dann alles in Frage zu stellen und neu zu arrangieren. Wir durften in unserer Mittagspause, sämtlich Produkte aus den Schränken zerren, für hunderte von Mark mixen und kneten. Abends betrat Monsieur das Schlachtfeld, baute sich am Pass auf und ließ servieren. Desaströs, eine Geldvernichtungsmaschine, ihm war es egal, manche Kreation schaffte es auf die abendliche Karte. Ein Adelsschlag.

Der mir nie gelang.
Gegen Ende des ersten Lehrjahrs war ich frustriert und arbeitete fast jeden Mittag an meinen Kreationen, frei nach Loriot, es muss gehen, andere tun es ja auch. Meine, wie ich fand, bislang beeindruckenste Erfindung, war ein Möhren-Ingwer-Eis. Also irgendwie doch bahnbrechend, sensationell! Monsieur verzog das Gesicht, sah mich an und sprach sein Urteil: „Sag mal, was soll den das? Sind wir hier eine ausgelagerte Produktionsstätte für Babynahrung? Schmeiß das weg!“ Und im Weggehen, verärgert: „ ich bin doch nicht Herr Hipp“.

Da ich neben der Arbeit den Mädchen, sowie dem Bier, der Musik und dem Rauchen zugeneigt war, entspann sich zwischen Monsieur und mir alsbald eine genüsslich ausgetragene Hassliebe. Nach einem, sagen wir mal schleppenden, Silvestermenü-Service, wurde es kurz ungemütlich für mich. Monsieur verweigerte meine Neujahrsgrüße, ich ging, feierte bis in den nächsten Tag hinein und erwachte, als das Telefon klingelte. Monsieur am Apparat mit einem speziellen Neujahrsgruß: “Paulsen, ich hätte dich gestern mit einer Rakete abschießen sollen, das wäre eine Erlösung gewesen!“. Er vergaß auch nicht, mich darauf hinzuweisen, das ich ein Säufer und ein Hurenbock sei. Ich sah auf die Uhr.
Zwölf Uhr Mittags.
Mein Vorschlag, mir doch einen Urlaubstag abzuziehen, lief ins Leere: „Das hab ich schon“

Als ich wieder nüchtern war, revanchierte ich mich. Monsieur liebte den Champagner, überall hatte er in der Küche Gläser mit dem herrlichen Prickel „versteckt“, in Kasserollen und Töpfen. Die Landkarte der kücheneigenen Champagne hatte er im Kopf, steuerte bei Bedarf einen der vielen Geheimbunker an, ein Blick nach rechts, ein Blick nach links, schwupps, a votre santé, weiter. Kurz nach Neujahr bin ich dann, kurz vor dem Service mit einer angeritzten, superscharfen Piri-Piri-Pfefferschote rum gegangen und habe die Glasränder damit geputzt. Tränen der Rührung füllten Monsieurs Augen. Schon beim ersten Schluck.

Mit der Zeit wuchsen wir einander dann irgendwie doch richtig ans Herz, der Monsieur und ich, er ließ mich teilhaben an seinem Universum, bestehend aus fünf Meter langen Fischen in Technicolor, mit lustigen Namen und säbelscharfen Zähnen („und im Fisch ist meistens noch ein kleinerer Fisch, quasi umsonst!“), ich durfte mithelfen bei seinem zweiten Buch ( „ich wirke schwul auf dem Titelfoto, und das wollen die auf der Buchmesse drei mal drei Meter groß machen, da geh ich gar nicht hin, da mache ich nicht mit..... Paulsen ! ich hab das gehört, dein rotzfreches Lachen“) und zum Ende meiner Lehrzeit, übergab er mir die Küchenleitung seines Bistros. Es kam anders, mein Land glaubte mich an der Waffe zu brauchen, ich verweigerte, schob Rollstühle durch Werkstätten und machte mich anschließend auf, bei anderen Meistern mein Wissen zu vertiefen.

Zurück gekehrt bin ich 15 Jahre später, am vergangenen Ostersamstag. Im Arm die Liebste, im Herzen einen Plan.

Der Gastraum schien geschrumpft, doch nichts hatte sich verändert. Dunkles Holz, schwere Vorhänge, dicke, dumpfe Teppiche und eine feierliche Ruhe, hier wird dankenswerter Weise keine Musik serviert. Der runde Tisch im Zentrum des Restaurants war für uns reserviert, Monsieurs Frau kam vorbei, Smalltalk, sind Sie immer noch in Zürich, ich war nie in Zürich. Eisbeschlagener Champagner wurde serviert, mit einem Hauch Holunder, in großen Glasballonen gärt Monsieur seinen Holundersirup im Innenhof des Restaurants. Das „Amusette village“, ein Willkommensgruß aus der Küche, bestand aus nicht weniger als drei kompletten Speisen, dann kam die erste Vorspeise, ein Atem beraubendes Arrangement aus getrüffeltem Kalbsbies mit verlorenen Wachteleiern und Forellenkaviar mit Nüsslisalat, ein Meisterwerk. Ich hatte mir vorgenommen, nichts durch die rosa Brille der zeitlichen Verklärung zu sehen, sondern wie gewohnt, beinhart die Fehler zu finden, doch das wollte auch beim zweiten Gang nicht gelingen, perfekt gebratener St. Petersfisch mit Schuppen aus hauchdünn geschnittenen Shiitakepilzen schwomm in einer cremigen, blütenweißen Sesamsauce. Gleich drei Saucen, allesamt geschmacksintensiv und auf den Punkt gewürzt, begleiteten die Melange von Jakobsmuscheln und Gambas auf beinahe durchsichtigen Scheiben von gebratenem Kohlrabi. Eher roh, sahen die mit Niedrigtemperatur gegarten Lammkotelettes aus, waren aber butterzart und dufteten nach Lavendel und Knoblauch, begleitet von cremigem Mascarpone-Risotto und einer kräftigen Jus. Die Hauptattraktion für mich aber, war die in Kräutern und Bröseln gebackene Lammzunge, die auf der Karte nicht mal Erwähnung fand. Nach dem Käsegang, Gorgonzola mit getrocknetem Bacon, süßen Ingwer-Walnüssen und Barolo-Vinaigrette (zum wegtrinken!), erschien Monsieur.

Ich kann ihnen zu dieser Begegnung nichts sagen. Ungefähr fünf Minuten dauerte diese, erste Begegnung, mit Monsieur. Lassen wir die Liebste sprechen, die später erzählte, ich hätte ausgesehen wie ein im Scheinwerferlicht des nahenden Wagens erstarrtes Reh. Mit großen Augen hätte ich Monsieur angesehen, Fragen knapp mit Ja und Nein beantwortete und ansonsten nicht sehr lebendig gewirkt. Gott sei Dank, es nahte das Dessert, Monsieur verabschiedete sich in die Küche und ich konnte mich wieder bewegen. Ein knusprig karamellisiertes Ananas-Carpaccio mit einem luftigen Cassis-Schaum und einem sensationellen, nie geschmeckten Melonen-Minz-Chutney vollendete das grandiose Menü. Auch das Restaurant hatte sich inzwischen geleert und wir waren die einzigen Menschen im Gastraum. Genau darauf hatte ich spekuliert. Drei Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet, in diesem Restaurant zu sitzen, in dem so wohlwollend die Weichen für mein Leben gestellt wurden, dort zu sein, mit der Frau auf die ich mein ganzes Leben gewartet hatte und die ich vor drei Jahren gefunden habe. Dies ist der Ort, das ist der Zeitpunkt. Ich zog den Ring aus der Tasche, den ich schon vor zwei Jahren gekauft hatte, manche Dinge dauern eben, auch wenn man schon lange Gewissheit hat. Ich stellte die Frage und die Liebste sagte ja, sagt mehrmals ja, es war ganz still, nur wir. Wir, endlich.
„So! Jetzt!“, rief Monsieur, den wir nicht hatten kommen hören, setzte sich zu uns und sah über die zarte Brille ins Rund. „Mein Gott, Paulsen, was für eine schöne Frau!“

Und dann haben wir Drei ordentlich gefeiert, das kann ich ihnen aber sagen!

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