Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 30. Oktober 2006
Sonntagnachmittagsfieber

Als ich Sonntagmorgen erwache, zeigt mir mein Funkwecker dass es 33:35 Uhr ist. Klappt ja prima, die automatische Zeitumstellung. Nach kurzer Entknitterungsphase finden mich Welt und Winterzeit am Schreibtisch sitzend, ich schreibe meine Moderation für den Nachmittag, drucke Wegweiser aus, aktualisiere die Gästeliste und schwupp, schon ist es 36:15 Uhr, Zeit zu gehen. Denn heute muss ich noch früher als sonst in der Baderanstalt sein, gestern fand dort noch eine andere Veranstaltung statt und die Tribüne steht heute schlichtweg falsch herum. Da wir nicht wollen, dass unser Publikum die Köpfe nach rechts drehen muss um die Autoren zu sehen, schrauben wir drei Tonnen Stahlträger und Bühnenbrette auseinander und dann wieder zusammen. Schon bald vibrieren die dünnen Leseveranstalterärmchen ganz gehörig, sie scheinen nicht mehr zu mir zu gehören, beidhändig führe ich die Kaffeetasse zum Mund und mir wird klar, warum Chirurgen, Augenärzten und Zahnärzten das Holzhacken von Berufswegen verboten ist.

Drei Panikattacken später, steht die Tribüne, auch Licht und Ton tun was sie sollen und es ist Zeit für mein lesesonntägliches Beunruhigungs-Mantra: „Da kommt sowieso keiner“. Dreimal hintereinander gemurmelt, sorgt dieses Mantra für Zuschauerströme. Warum ich mein Mantra an diesem Sonntag achtmal murmelte, man weiß es nicht, die karmische Schicksalsquittung lässt aber nicht lange auf sich warten, die Zuschauer strömen in ungekannten Massen. Mein Puls schlägt schneller, probeweise hebe ich meine Moderationszettelchen in die Luft, sie zittern wie Herbstlaub in meinem Händen, ein gehöriger Sturm zieht an den Blättern, das ist schlecht für Chirurgen, das ist schlecht für mich.

Wir werden überrannt. Menschentrauben am Eingang, der Büchertisch ist umstellt, es bildet sich eine imposante Schlange am Gastro-Tresen. Sämtliche Servierkräfte haben ausgerechnet heute wegen Krankheit abgesagt, und Hausherr Kristian Bader kämpft allein an einsamer Front. Ich laufe nervös auf und ab. Mein nervöses auf und ab laufen ist legendär und auch an diesem Sonntag enttäusche ich mein Publikum nicht. Beruhigend wirkt in dieser Phase die Sichtung von Bloggern auf mich. Die Schwadroneuse ist da, Kerstin13, Desideria, Ix, axelk, Mequito, der Großbloggbaumeister, Wrobel und Alexander sind im Saal. Beruhigend ist das, weil diese Menschen wissen, dass ich erst gegen 42:00 Uhr wieder ansprechbar sein werde und mich darum lediglich mit aufmunterndem Lächeln begrüßen und mich ansonsten nervös auf und ab laufen lassen.

Es könnte alles so schön sein. Wenn nicht der Kulturklub Hannover ausgerechnet jetzt auf meinem Handy anrufen würde. Der „Kulturklub Hannover“ ist in Wirklichkeit meine Tante aus Hannover und ihre, zum Teil gehbehinderten, Freundinnen. Die Damen sind schwer zu Fuß, darum habe ich Ausnahmsweise Plätze für sie reserviert. Die Damen haben aber auch Probleme Straßenkarten zu lesen und rufen mich an. Ich werde aber leider erst gegen 42:00 Uhr ansprechbar sein, im Moment weiß ich außerdem nicht mal mehr wo ich wohne, ich reiche das Handy an Isa weiter, die wohnt ja hier. Glaube ich. Meine Tante versteht es meisterhaft, Menschen in ausschweifende Gespräche zu verwickeln und im Moment wickelt sie Isa ein. Vor dem Büchertisch strecken viele Menschen Isa Geldscheine entgegen, denn das ist ein Büchertisch und die Menschen wollen Bücher kaufen und Isa ist heute die Frau vom Büchertisch. Da fällt Isa ein, dass ja Kristian Bader hier wohnt und sie reicht den Apparat weiter an Kristian, der gerade mit Kaffee und Kuchen jongliert. Meine Tante verwickelt Kristian in ein Gespräch. 30 Leute strecken Kristian Geldscheine entgegen, denn das ist der Gastro-Tresen und die Menschen wollen Kaffee und Kuchen und Sekt und Bier und Kristian ist heute der Mann vom Gastro-Tresen. Nach zehn Minuten Telefonat weiß auch Kristian nicht mehr wo er wohnt, brüllt in den Hörer: „Sie schaffen das schon, Tante Paulsen!“ und legt auf.

Mit glasigen Augen sehe ich ins Nichts und überlege, wie man wohl am besten in Ohnmacht fällt, ohne sich den Kopf anzuschlagen, dazu murmle ich ein neues Mantra: „Heute kommen ganz viele Leute, heute kommen ganz viele Leute!“. Es ist zu spät. Hilferuf von Türsteher und Kassenwart Axel, es wären da ganz viele Leute, die wollten mich sprechen. Ich setze mein strahlenstes Fernsehlächeln auf und trete in den Vorraum in dem sich ca. 40 Enttäuschte befinden. „Guten Tag!“, sage ich, und: „leider ausverkauft.“ Der Club der Enttäuschten zweifelt an meinen Worten, ich zeige in den Veranstaltungsraum, es gibt nicht nur keine Sitzplätze mehr, es gibt auch keine Stehplätze mehr und Luft zum Atmen ist seit einer halben Stunde auch aus. Das stört die Enttäuschten nicht, sie stimmen ein Liedchen an: „Einer geht noch, einer geht noch rein!“. Ich habe ein weiches Herz, das tut mir wirklich alles sehr leid, die lange Anreise an den Hintern der Welt und überhaupt, aber es geht einfach nichts mehr und ich verkneife mir den Hinweis auf Gorbatschow und entschuldige mich vielmals. Die Leute kennen keine Gnade. Einzelschicksale werden vorgetragen, ich sacke innerlich zusammen. Ein junger Mann gibt sich als Bruder einer geladenen Autorin zu erkennen und ich finde Brüder müssen rein. Ich erfinde eine Notlüge und sage mit fester Stimme: „Ach natürlich, du stehst auf der Gästeliste!“. Und was macht der Döskopp? Statt einfach eiligen Schrittes die Veranstaltung zu betreten, dreht er sich zu Axel und ruft: „ Ich steh auf der Gästeliste!“. Axel kuckt nach. Vierzig Köpfe beugen sich nach vorn. Da kann ich dem Mann auch nicht mehr helfen. Ich weiße gerade einen Autor ab, der schon zweimal bei uns aufgetreten ist, der mit vier Menschen im Schlepptau auch noch rein will und der auch kein Verständnis hat (Ladys and Gentlemen, please welcome: Mr. Paulsen and his future Enemies!), da tauchen Elle und Sebas auf. Schlimmer wird’s nicht. Ich kann doch Elle und Sebas nicht draußen stehen lassen. Fieberhaft arbeite ich an einem Geheimplan, Elle und Sebas zur Seite zu drängen und dann konspirativ durch die Hintertür am Fahrstuhl in den Saal zu lassen, da strahlt Sebas: „ Für uns sind drin schon Plätze reserviert!“. Raffiniert, denke ich und freu mich, später erkenne ich, dass die beiden tatsächlich schon hatten vorsorgen lassen. Puh.
Leider gilt es jetzt noch eine Lesung zu überstehen. Schweißgebadet und mit flackernden Armen trete ich ins gleißende Licht der Scheinwerfer. „Herzlich willkommen zu KAFFEE.SATZ.LESEN 33...“.

Ab hier ist die Erinnerung bruchstückhaft. Nur Merlix, der den schwierigen, aber so wichtigsten ersten Platz einnahm und grandios las, als hätte er nie etwas anderes getan, diese Textqualität und dieser Vortrag, davon träumen Leseveranstalter, das liebt das Publikum. Und der Autor Matthias Keidtel, der mit seinem Buch „Ein Mann wie Holm“ sämtliche Buchverkaufsrekorde von KSL brach, 18 Bücher in 15 Minuten, wir hätten noch mal soviel verkaufen können, ahnt ja keiner. Und Bov Bjerg, der mir zeigte, dass das Leben manchmal eben doch ein Wunschkonzert ist und, trotz einiger Bedenken seinerseits, meinen Wunschtext las und das Publikum mit meisterhaften Schinkennudeln zum explodieren brachte. Soviel Applaus war selten. Danke, Bov!

Und dann wieder runter kommen, mit 14 wunderbaren Menschen an einer langen Tafel sitzen, Michalis und Santo servieren 80 Schälchen, gefüllt mit Calamares, scharfen Würsten, zarten Lammkoteletts, Rote Bete Salat, gegrillten Auberginen, Garnelen in Tomatensauce, Zickleinleber in Rotweinsauce, gebratenen Rotbarben, warmem Brie mit Honig, Thunfisch Sashimi, Zucchinipuffern, Lammfrikadellen, Käse in Weinteig und Bier und Wein und viel Bier und Ouzo. Ins Rund schauen und wissen, ja, ich freu mich schon auf die nächste Lesung. Und lachen und feiern und reden und zuhause noch mal auf den Funkwecker sehen.
47:30 Uhr. Ich lege die mechanische Armbanduhr auf den Nachttischbücherberg und bin raus.