Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Dienstag, 18. April 2006
Vom Dauern der Dinge

Manche Dinge dauern einfach. Feiner Käse, edle Weine, wichtige Entscheidungen und Herzensangelegenheiten sind nur einige der vielen Dinge, die Zeit brauchen. Auch diesen Blog-Eintrag zu lesen, wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Dass ich allerdings 15 Jahre brauchen würde um bei meinem Lehrherren essen zu gehen, dass erstaunte mich selbst. Ich habe in den letzten Jahren bei unzähligen Köchen gegessen, immer wissend, dass der eine Restaurantbesuch irgendwann kommen würde. Sie mögen das für seltsam halten, ich nenne es tiefen Respekt, gepaart mit überzogener Bescheidenheit, die mir fünfzehn Jahre den Besuch in Monsieurs Restaurant unmöglich machten. Mein Bruder beschrieb das Verhältnis zwischen Monsieur und mir einmal als schwierige Vater-Sohn-Beziehung. Da mag er Recht haben.

Alles was aus mir geworden ist, der, der ich heute bin, alles fand seinen Anfang in der Küche von Monsieur. Von ihm lernte ich nicht nur zu kochen, ich entdeckte die bedingungslose Liebe zur Kulinarik, er weckte die kochende Begeisterung in mir und vermittelte nebenbei erfolgreich Werte wie Disziplin, Ausdauer und Respekt. Respekt vor den Produkten, vor der Natur, den Menschen. Ende der Achtziger war seine Küche das Epizentrum einer neuen Kochbewegung und ich war mittendrin.

Die Küche in Deutschland war auf „Nouvelle Cuisine“, Monsieur war das nicht genug, er kochte euro-asiatisch, er trat den jämmerlichen Frankreichgläubigen, mit ihren fitzeligen Miniaturen jeden Tag in den Arsch. Miso, Wasabi, Uhlua, Mai-Mai, bei Monsieur gab es alles und alles zehn Jahre früher. Der Mann war Gott und alles blickte in seine Küche, in dieser Zeit. Nach einer achtwöchigen (!) Probezeit („ich trau Dir nicht Paulsen, mach doch noch mal eine Woche“), war ich aufgenommen, Lehrling, in den heiligen Hallen des Monsieur. Er wuchtete ein halbes Kilo Bewerbungen auf den Tisch, sagte: “Das sind nur die von dieser Woche, (Kunstpause) du kannst anfangen.“
Er war der König, seine Lehrlinge waren Königskinder! Schon nach einem halben Jahr, es war das härteste meines Lebens, stand ich in der Küchenordnung über jedem ausgebildeten Koch, er verzieh jedem Witzigmann-Schüler alles, uns Lehrlingen nichts. Er schleifte uns durch eine Ausbildung, die an Härte und Menschlichkeit nichts fehlen lies.

Sein Einsatz für die Kulinarik war gänzlich und bedingungslos. Und er war Künstler, er selbst würde sich nie so beschreiben, aber Kochen, das war für ihn ein dringend zu erlernendes Handwerk, nur um dann alles in Frage zu stellen und neu zu arrangieren. Wir durften in unserer Mittagspause, sämtlich Produkte aus den Schränken zerren, für hunderte von Mark mixen und kneten. Abends betrat Monsieur das Schlachtfeld, baute sich am Pass auf und ließ servieren. Desaströs, eine Geldvernichtungsmaschine, ihm war es egal, manche Kreation schaffte es auf die abendliche Karte. Ein Adelsschlag.

Der mir nie gelang.
Gegen Ende des ersten Lehrjahrs war ich frustriert und arbeitete fast jeden Mittag an meinen Kreationen, frei nach Loriot, es muss gehen, andere tun es ja auch. Meine, wie ich fand, bislang beeindruckenste Erfindung, war ein Möhren-Ingwer-Eis. Also irgendwie doch bahnbrechend, sensationell! Monsieur verzog das Gesicht, sah mich an und sprach sein Urteil: „Sag mal, was soll den das? Sind wir hier eine ausgelagerte Produktionsstätte für Babynahrung? Schmeiß das weg!“ Und im Weggehen, verärgert: „ ich bin doch nicht Herr Hipp“.

Da ich neben der Arbeit den Mädchen, sowie dem Bier, der Musik und dem Rauchen zugeneigt war, entspann sich zwischen Monsieur und mir alsbald eine genüsslich ausgetragene Hassliebe. Nach einem, sagen wir mal schleppenden, Silvestermenü-Service, wurde es kurz ungemütlich für mich. Monsieur verweigerte meine Neujahrsgrüße, ich ging, feierte bis in den nächsten Tag hinein und erwachte, als das Telefon klingelte. Monsieur am Apparat mit einem speziellen Neujahrsgruß: “Paulsen, ich hätte dich gestern mit einer Rakete abschießen sollen, das wäre eine Erlösung gewesen!“. Er vergaß auch nicht, mich darauf hinzuweisen, das ich ein Säufer und ein Hurenbock sei. Ich sah auf die Uhr.
Zwölf Uhr Mittags.
Mein Vorschlag, mir doch einen Urlaubstag abzuziehen, lief ins Leere: „Das hab ich schon“

Als ich wieder nüchtern war, revanchierte ich mich. Monsieur liebte den Champagner, überall hatte er in der Küche Gläser mit dem herrlichen Prickel „versteckt“, in Kasserollen und Töpfen. Die Landkarte der kücheneigenen Champagne hatte er im Kopf, steuerte bei Bedarf einen der vielen Geheimbunker an, ein Blick nach rechts, ein Blick nach links, schwupps, a votre santé, weiter. Kurz nach Neujahr bin ich dann, kurz vor dem Service mit einer angeritzten, superscharfen Piri-Piri-Pfefferschote rum gegangen und habe die Glasränder damit geputzt. Tränen der Rührung füllten Monsieurs Augen. Schon beim ersten Schluck.

Mit der Zeit wuchsen wir einander dann irgendwie doch richtig ans Herz, der Monsieur und ich, er ließ mich teilhaben an seinem Universum, bestehend aus fünf Meter langen Fischen in Technicolor, mit lustigen Namen und säbelscharfen Zähnen („und im Fisch ist meistens noch ein kleinerer Fisch, quasi umsonst!“), ich durfte mithelfen bei seinem zweiten Buch ( „ich wirke schwul auf dem Titelfoto, und das wollen die auf der Buchmesse drei mal drei Meter groß machen, da geh ich gar nicht hin, da mache ich nicht mit..... Paulsen ! ich hab das gehört, dein rotzfreches Lachen“) und zum Ende meiner Lehrzeit, übergab er mir die Küchenleitung seines Bistros. Es kam anders, mein Land glaubte mich an der Waffe zu brauchen, ich verweigerte, schob Rollstühle durch Werkstätten und machte mich anschließend auf, bei anderen Meistern mein Wissen zu vertiefen.

Zurück gekehrt bin ich 15 Jahre später, am vergangenen Ostersamstag. Im Arm die Liebste, im Herzen einen Plan.

Der Gastraum schien geschrumpft, doch nichts hatte sich verändert. Dunkles Holz, schwere Vorhänge, dicke, dumpfe Teppiche und eine feierliche Ruhe, hier wird dankenswerter Weise keine Musik serviert. Der runde Tisch im Zentrum des Restaurants war für uns reserviert, Monsieurs Frau kam vorbei, Smalltalk, sind Sie immer noch in Zürich, ich war nie in Zürich. Eisbeschlagener Champagner wurde serviert, mit einem Hauch Holunder, in großen Glasballonen gärt Monsieur seinen Holundersirup im Innenhof des Restaurants. Das „Amusette village“, ein Willkommensgruß aus der Küche, bestand aus nicht weniger als drei kompletten Speisen, dann kam die erste Vorspeise, ein Atem beraubendes Arrangement aus getrüffeltem Kalbsbies mit verlorenen Wachteleiern und Forellenkaviar mit Nüsslisalat, ein Meisterwerk. Ich hatte mir vorgenommen, nichts durch die rosa Brille der zeitlichen Verklärung zu sehen, sondern wie gewohnt, beinhart die Fehler zu finden, doch das wollte auch beim zweiten Gang nicht gelingen, perfekt gebratener St. Petersfisch mit Schuppen aus hauchdünn geschnittenen Shiitakepilzen schwomm in einer cremigen, blütenweißen Sesamsauce. Gleich drei Saucen, allesamt geschmacksintensiv und auf den Punkt gewürzt, begleiteten die Melange von Jakobsmuscheln und Gambas auf beinahe durchsichtigen Scheiben von gebratenem Kohlrabi. Eher roh, sahen die mit Niedrigtemperatur gegarten Lammkotelettes aus, waren aber butterzart und dufteten nach Lavendel und Knoblauch, begleitet von cremigem Mascarpone-Risotto und einer kräftigen Jus. Die Hauptattraktion für mich aber, war die in Kräutern und Bröseln gebackene Lammzunge, die auf der Karte nicht mal Erwähnung fand. Nach dem Käsegang, Gorgonzola mit getrocknetem Bacon, süßen Ingwer-Walnüssen und Barolo-Vinaigrette (zum wegtrinken!), erschien Monsieur.

Ich kann ihnen zu dieser Begegnung nichts sagen. Ungefähr fünf Minuten dauerte diese, erste Begegnung, mit Monsieur. Lassen wir die Liebste sprechen, die später erzählte, ich hätte ausgesehen wie ein im Scheinwerferlicht des nahenden Wagens erstarrtes Reh. Mit großen Augen hätte ich Monsieur angesehen, Fragen knapp mit Ja und Nein beantwortete und ansonsten nicht sehr lebendig gewirkt. Gott sei Dank, es nahte das Dessert, Monsieur verabschiedete sich in die Küche und ich konnte mich wieder bewegen. Ein knusprig karamellisiertes Ananas-Carpaccio mit einem luftigen Cassis-Schaum und einem sensationellen, nie geschmeckten Melonen-Minz-Chutney vollendete das grandiose Menü. Auch das Restaurant hatte sich inzwischen geleert und wir waren die einzigen Menschen im Gastraum. Genau darauf hatte ich spekuliert. Drei Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet, in diesem Restaurant zu sitzen, in dem so wohlwollend die Weichen für mein Leben gestellt wurden, dort zu sein, mit der Frau auf die ich mein ganzes Leben gewartet hatte und die ich vor drei Jahren gefunden habe. Dies ist der Ort, das ist der Zeitpunkt. Ich zog den Ring aus der Tasche, den ich schon vor zwei Jahren gekauft hatte, manche Dinge dauern eben, auch wenn man schon lange Gewissheit hat. Ich stellte die Frage und die Liebste sagte ja, sagt mehrmals ja, es war ganz still, nur wir. Wir, endlich.
„So! Jetzt!“, rief Monsieur, den wir nicht hatten kommen hören, setzte sich zu uns und sah über die zarte Brille ins Rund. „Mein Gott, Paulsen, was für eine schöne Frau!“

Und dann haben wir Drei ordentlich gefeiert, das kann ich ihnen aber sagen!

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Freitag, 14. April 2006
Die Schweine!

Trotzdem schöne Ostern, wünsche ich.

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Montag, 10. April 2006
Traumhaft kochen mit Paul Bocuse

Dass ich nächtens gerne, viel und äußerst plastisch vom Kochen träume, davon berichtete ich bereits an anderer Stelle. Das ich aber, nach Jamie Oliver, auch mal mit Paul Bocuse kochen würde, hätte ich mir nicht träumen lassen.

Ich stehe also in einer Restaurantküche, da kommt die Bildredakteurin einer Esszeitschrift rein (im Traum ist sie Servicefachkraft) und kündigt neue Gäste an. Draußen säßen drei Fotografen (die ich aus dem richtigen Leben kenne) und ich könnte schon mal die Amuse geule zubereiten. Ich mache mich ans Werk, da tritt Paul Bocuse auf mich zu und ich bin kein bisschen überrascht. Auch dass der folgende Dialog in fließendem Französisch gehalten wurde, obwohl ich nur äußerst bescheidene Französischkenntnisse habe, verwunderte mich nicht weiter.

Bocuse: „Na, Polsen, was kochen wir für die Leude?“
Paulsen: „ Soufflierte Kalbsbällchen mit Trüffel-Jus, die Gäste kenn ich, die stehen auf so Oldschool-Kram.“
Bocuse: „ Da muss aber noch was Frisches dazu!“
Paulsen: „ Ja, ich mache ein paar Lauch-Julienne dazu.“
Bocuse: „ In Frankreich hobeln wir immer üppisch rohe Zucchini drüber.“

Abgesehen davon, dass das erträumte Gericht sowieso großer Mist ist, denke ich in diesem Moment, rohe Zucchini, was für ein Schwachsinn, der Alte tickt echt nicht mehr richtig. Aber wer will bitte Paul Bocuse widersprechen?
„Großartige Idee, wau, Hammer!“, rufe ich, Bocuse lächelt triumphal und entschwindet.

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Montag, 3. April 2006
Eine Postkarte aus: Berlin

Da hängt doch was unter dem Auto? Ein letzter Blick auf den abgestellten Wagen in der Hotel-Tiefgarage sorgt für Sorgenfalten. Näheres Hinsehen offenbart, ja, da hängt was, es ist der Auspuff, der soll da auch hängen aber nicht so. So. Tief. Wir checken ein im „Lux11“, einem zentral gelegenen Mittelklasse-Hotel das auf Design-Hotel macht, man lebt in grauem Waschbeton, farblich abgestimmt das strenge Mobiliar und wer es mag, kann dem Partner vom Bett aus beim Duschen zuschauen, es lebe die Transparenz! Es gibt eine Küchenzeile, einen DVD Player und einen Flachbildfernseher. Sogar eine Spülmaschine gibt es. Dafür gibt es keine Minibar und wir widerstehen leichten Herzens dem Abendzerstreuungsangebot unserer Herberge (Fernsehen, Spülen, Dusche, Durst) und machen uns auf den Weg in die Weinbar Rutz.

Vor Tagen schon hatte ich dort einen Tisch für die Liebste und mich bestellt, es gilt, das Angenehme (kulinarische Blog-Lesung) mit dem Abgenehmen (Essen gehen!) zu verbinden. Mit dem Küchenchef der Weinbar Rutz, dem begnadeten Marco Müller, schlug ich mir Anfang der Neunziger im Berliner Interconti (Restaurant Hugenotten) die Jugend um die Ohren und ich freue mich auf das Wiedersehen. Marco Müller übernahm vor zwei Jahren die Küchenleitung von TV Koch Ralf-the Ziegenbart-Zacherl und schaffte es in kürzester Zeit auf 16 Punkte im Gault Millau.

Wir haben unverschämtes Glück, sitzen pünktlich zum fünften Geburtstag von Deutschlands größter Weinbar in ebendieser und genießen ein fünf Gänge Menü mit korrespondierenden Weinen für sagenhafte 55,55 Euro. Auf jedem Teller eine Palette von geschmacksintensiven Kleinstkunstwerken, die doch jedes Mal ein rundes Ganzes bilden, die Harmonie der kleinen Dinge, große Kochkunst. „Ich verachte die Drei-Komponenten-Küche“, wird uns Marco Müller später im Gespräch erklären und wir sind dankbar dafür. Zart schmelzendes Tomaten-Sorbet mit Olivenöl, cremig-schaumiger Bärlauch-Cappuccino mit Lamm-Kassler-Praline, in 24 Gewürzen 24 Stunden marinierter Thunfisch auf perlendem Couscous, butterzarter Kalbstatar sind nur einige Highlights aus Marcos Aromenküche. Unschlagbar aber der Hauptgang, geschmorte Backe vom Charolais-Rind die auf der Zunge zergeht in einer würzigen Jus gebadet, dazu buttriges Selleriepüree und Spinatknöpfle mit Garnelenhack. Wir sitzen direkt vor der, zum Gastraum geöffneten, Küche und beobachten muskulöse, junge Männer in bedruckten T-Shirts mit Piratenkopftüchern, Irokesen-Haarschnitten und Ziegenbärten, die hoch konzentriert und mit weichen, geschmeidigen Bewegungen Sauteusen schwenken, Saucen aufschäumen und mit Pinzetten anrichten. Beim anschließenden Gespräch mit Marco Müller, bildet sich in mir spontan der Wunsch, wieder in der Gastronomie zu kochen. Diese Leidenschaft mit der er von seinen Ideen erzählt, diese absolute Liebe zum Handwerk, zum Produkt, für die alles geopfert wird, ist überzeugend und beeindruckt mich nachhaltig. Marco Müller ist Überzeugungstäter und ein ganz großer Koch.

Beim nächtlichen Verdauungsspaziergang präsentiert sich mir Berlin, ganz so, wie ich es in Erinnerung hatte. Zumindest im künstlichen Amüsierbetrieb zwischen Oranienburger und Hackescher Markt, dieser missglückten Simulation einer mediterranen Uferpromenade, ist die Nacht lautstark amüsierwillig, techno-trunken und dick geschminkt. Ein bisschen weinen muss ich dann bei einem sentimentalen Besuch im ehemaligen „Kurvenstar“, der jetzt ganz anders heißt und in dem sich rotgesichtiges Jungvolk zu Dutz-Batz-House aus dicken Boxen, überteuertes Importbier über die preiswerten Anzüge kleckert. Ein menschliches Bedürfnis zwingt uns später noch zu einem letzten Einkehrschwung in eine spanische Tapas-Bar, dort spielt man neben allerlei folkloristischen Heimatweisen auch immer wieder gerne Irish-Folk. Da kann die WM ja kommen.

Vor die kulinarische Blog-Lesung hat der Herrgott einen Kater gesetzt, der es in Form und Schwere durchaus mit den Betonmauern unseres Zimmers aufnehmen kann. Und da war doch noch was mit dem Auspuff. Der ADAC-Mann liegt pünktlich um 9:00 Uhr unter meinem aufgebockten Wagen und macht immer: „Ach jeh!, Ohweh!, Neeee, meine Jüte, wat ne Kacke!.“ Dann erzählt er von abgerissenen Auspuffwannen auf Autobahnen, sich überschlagenden Autos mit Großfamilien, Feuer, Tod, Vernichtung. Wir verbringen den Vormittag mit der Suche nach einer Autowerkstatt. Der Nachmittag führt mich in viele, viele Schuhgeschäfte und Klamottenläden, aus Langeweile probiere ich auch Sachen an, meistens Schütteln die Liebste und der Verkäufer gemeinsam die Köpfe. Das ist gut, das spart Geld und Geld brauche ich, als ich am Spätnachmittag meinen Wagen auslöse. 400 Euro kostet der Spaß und ich muss mich wirklich kurz hinlegen. Die Liebste turnt unermüdlich mit Freuden durch Berlin und ich liege mit offenen Augen zwanzig Minuten in Elend und Waschbeton, grüble wie ich heute Abend wohl lesen soll. An Schlaf nicht zu denken. Im Flachbildschirm läuft MTV, eine Sendung über Rockmusik und Drogen. Drogen wären jetzt super. Ich hab nicht mal eine Minibar. Ersatzdroge Spaziergang, frisch geduscht mache ich mich auf den Weg zur Lesung.

Im Café Babel bekämpfe ich aufkommende Anspannung mit einem großen Bier und freue mich über jedes bekannte Gesicht. Ich versteh das nicht: Ich freu mich immer sehr auf solche Treffen/Lesungen, wenn ich aber da bin, möchte ich am liebsten immer sofort wieder gehen. Smalltalk kann ich nicht, Namen merken ist auch nicht meine Stärke, ich verkrampfe dann irgendwann stark, denke dann, jetzt denken alle du bist so ein verkrampfter Typ, daraufhin verkrampfe ich dann so richtig. Und genau in diesem Moment nährte sich Frau Wortschnittchen und eröffnete mir, dass ich bitte als Erster lesen solle. Ein Arzt.
Ist hier ein Arzt im Café?

Ich erwache wieder als Applaus einsetzt und ich die Bühne verlassen darf. Das ist das Schöne am Erster sein, man hat es hinter sich. Ich genieße die Lesung. Und ich werde jetzt hier nicht das gesamte Programm durchhecheln, nur soviel: Ich habe mich sehr gefreut Frau Engl entdeckt zu haben, ihr Blog war mir bislang nicht unter gekommen und ihre wundeschöne Sprache veranlasste mich sofort ihren Roman „Lucas“ zu erweben. Und Bov Bjerg. Seine „Schinggenudle“ katapultierten mich in Lichtgeschwindigkeit zurück in meine Kindheit im Schwäbischen, eine punktgenau Miniatur der schwäbischen Seele und, es sei mir das Wortspiel erlaubt, zum brechen komisch.
Nach der Lesung entspannte ich derartig, es gelang mir sogar meine Büffet-Allergie zu überwinden und das war nicht zu meinem Schaden! Cassandras Teigtaschen begeisterten mich, ebenso ein völlig unscheinbares, süßes Meisterwerk, das im Mittelgang zu finden war. Das waren Schichten von Eiswaffeln, zusammen geklebt mit einem süßen Sirup? So einfach so gut, ach was, geil! Hinweise auf Köchin oder Koch, sowie das Rezept nähme ich gerne entgegen!
Es folgte dass, was ich auch bei den selbst organisierten Lesungen am schönsten finde: mit klugen Menschen mehr oder weniger Blödsinn reden, essen, trinken. Diese schöne Art des Zeitvertreibs setzte sich, nach geglückter Flucht aus Punkrock-Gewittern, in einer Bar fort die nur nach mehrmaligem Klingeln und Gesichtskontrolle zu betreten war. Dort wurden Cocktails serviert und Geschichten, die die Cocktails mit Lachtränen verwässerten. Irgendwann fand ich mich, gegen 3:30 Uhr am Morgen in Hotelnähe wieder, glücklich und mit einer Bratwurst in der Hand.
Ich möchte den Organisatorinnen danken, Modeste und Wortschnittchen, ich weiß, was für einen großartigen Job sie gemacht haben! Ich möchte all den Menschen danken, die mir so vorbehaltlos freundlich begegneten und ich möchte den Menschen danken, die mich über das gesamte Wochenende begleiteten und dafür sorgten, dass auch der Sonntag noch ein wunderschöner Urlaubstag wurde.

So und jetzt freue ich mich auf ein Wiedersehen in Hamburg, beachten Sie dazu bitte die neongelbgrüne Ankündigung oben rechts.

..........................................ritsch.

Links zum Thema:
(watch for updates)

Lesungs-Blog:

http://gelage.twoday.net/

Audio-Mitschnitt:
(podcast, 93 mb, 101,41 Min, auch Einzeln abhörbar)

http://www.bordbuch.net/podcast/2006/04/bloglesungsgela_1.html

Nachlesen:

FrauEngl

DonDahlmann

DonAlphonso

Wortschnittchen

MissGlitter

.meike

Gela

Mequito

Fotos:

kommen noch

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Freitag, 31. März 2006
Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!

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Mittwoch, 29. März 2006
Ich werde wunderlich, Frau Dimbek brät ihren Wellensittich und das Wetter bleibt trocken über dem Rhein-Main-Gebiet

Ich werde wunderlich. Mit zunehmendem Alter häufen sich Marotten, Spleens und Wunderlichkeiten. In meinem Fall beglückte mich das Leben bislang mit einer ausgewachsenen Hundephobie deren Ursache im Dunkel liegt. Ich bin, besonders jungem Servicepersonal gegenüber, ungeduldig, schlage gern Mal einen altväterlichen Ton an und klinge dann wie ein verstockter Gerhard Schröder am Wahlabend. Ich werde immer pingeliger mit meiner Plattensammlung und entdecke die befriedigende Wirkung der strengen Mülltrennung. Wenn ich auf dem Handy telefoniert habe, überprüfe ich mehrmals, ob ich auch wirklich aufgelegt habe, oder ob mein Gesprächspartner ab jetzt meinem Leben lauscht. Unmöglich ist mir mit der Zeit auch der Besuch eines kalten Buffets geworden, diese Art der öffentlichen Massenverpflegung lehne ich ab und gehe lieber hungrig heim. Ich behaupte aber auf Nachfrage, immer noch ein echter Rocker und Freigeist zu sein. Der Geist scheint sich aber eigene Bahnen zu suchen und es gibt zwei hübsche Neuzugänge in meiner Schrulligkeiten-Sammlung:

1. Ich bin beruflich viel mit dem Auto unterwegs und ich weiß nicht, wann das anfing, immer wenn ich auf der Heimfahrt die Stadtgrenze von Hamburg überquere, denke ich zwanghaft: Wenn du jetzt verunglückst, kommst du wenigstens in ein Hamburger Krankenhaus. Ich bin kein ängstlicher Typ, ich denke die gesamte Reise nicht über die Möglichkeit eines Unfalls nach, fahre einen flotten Reifen, wechsle bei Tempo 160 die CD während ich rauche und wenn es sein muss telefoniere ich dabei auch. Doch kaum passiere ich das rote Hamburgschild, zack: Wenn du jetzt verunglückst, kommst du wenigstens in ein Hamburger Krankenhaus. Schön auch der Versuch, das zu unterdrücken: Oh, da vorn, Hamburgschild, du denkst jetzt mal nicht, dass wenn du jetzt verunglückst, du wenigstens in ein Hamburger Krankenhaus kommst!

2. Wirklich umgehauen hat mich aber folgende Beobachtung, die mir im Rahmen einer größeren Mail-Aussendung gelang. Ich lächle beim E-Mail schreiben. Ich schreibe also geschätzten Menschen eine Mail freundlichen Inhalts und lächle dabei. Sitze grinsend vor dem Computer und das Lächeln erstirbt erst wenn ich den Send-Button gedrückt habe. Mahnende Mails an nicht so geschätzte Menschen werden von gerunzelten Augenbraun und strenger Mine begleitet. Die Inhalte der Mails werden also von mir mimisch unterstützt.

Ich finde, dass sind zwei echte neue Klopper in der Wunderlichkeiten-Kiste. Tröstlich nur, dass ich nicht allein bin. Auch bei Freunden und Bekannten entdecke ich, im Hochsommer des Lebens, oft bemerkenswert komische Ritualisierungen des Alltags und einen Hang zu schleichender Verspießung, gepaart mit zunehmender Verstockung in Teilbereichen.

Schon im Mittelalter derartig zu Vergreisen, lässt nichts Gutes hoffen, es wird ja nicht besser! Die erste wunderliche Person, an die ich mich erinnern kann, war die alte Frau Dimbek, die ihren Lebensabend im Haus meiner Großeltern verlebte. Unermüdlich sang sie, wenn sie nicht gerade gellend schrie oder imaginäre Tiere von den Stufen des Treppenhauses auflas und unter wüsten Beschimpfungen in den Garten trug. Ich selbst, ein Fünfjähriger in Todesangst, wenn ich Frau Dimbek begegnete. Irgendwann briet Frau Dimbek ihren Wellensittich in etwas aufgeschlagenem Ei kross an (der Vogel sei in das Rührei geflogen, so die offizielle Bekanntmachung) und die Großeltern mussten fortan öfter nach ihr sehen, während ich in der unteren Wohnung dem Doktor Schiwago aus einem zierlichen Musiktischchen lauschte, zur Beruhigung.

Als Frau Dimbek starb, war ich sehr einverstanden. Blöd nur, dass meine Eltern ein halbes Jahr nach Frau Dimbeks Beerdigung eine längere Reise nach Afrika antraten und mich bei den Großeltern unter brachten. Die frisch renovierte Wohnung der Frau Dimbek gehört mir allein. Nachts lag ich zusammengekauert unter dicken, duftenden Daunenbergen und wartete auf Frau Dimbek, die ja sicher wusste, dass ich mich über ihren Tod gefreut hatte. Einen kleinen Spalt der schweren Decke ließ ich offen, von dort konnte ich auf die matt erleuchtete Drehscheibe des kleinen Radios sehen und die Städtenamen ablesen, London, Paris, Berlin, Frankfurt. Die Nadel stand immer auf Frankfurt, von dort kam schöne Musik, wie ich fand, und ab und zu sprach ein Mann mit sehr tiefer Stimme in einer fremden Sprache und ich wusste, solange Frankfurt sendet, kann Frau Dimbek nicht kommen. „Se wesser is drei ower se reinmein ärea“, sagte der Mann zwischen den Liedern oft und ich wiederholte den Satz dann mit tiefer Stimme, ein Mantra, mein erster englischer Satz, schwitzend im Deckendunkel, es war tatsächlich ein sehr heißer, trockener Sommer.

Es bleiben mir noch fünfzig Jahre bis ich Frau Dimbeks Alter erreiche und sofern mich nicht an einem öffentlichen Büffet, fernab von einem Hamburger Krankenhaus der Erstickungstod ereilt, bleibt zumindest auch der hübsche Gedanke, dass Menschen an ihren Computern sitzen, ihre Mails checken und denken: Hach, die Mails von Paulsen, die lächeln immer so schön.

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Freitag, 24. März 2006
Geräucherte Literaten.


Verstockte Raucher (Foto: Eliane Rutishauser)

Die Diskriminierung der Raucher ist fortschreitend, dabei haben wir es wirklich schon schwer genug. Wir sterben eventuell noch früher als vom Herrgott vorgesehen, wir stinken, werden schnell unruhig und geben unmengen Kohle für unsere Sucht aus. Ja, wir sind süchtig, wir sind krank. Außerdem sind wir oft Rücksichtslos gegenüber Nichtrauchern, die wir hier und da Zwingen unsere Abgase mit einzuatmen.

Ich bin sogar hochgradig süchtig, ich bin aber auch Mitveranstalter einer Lesereihe. Und in letzterer Funktion erreichte mich gestern ein Anruf von unseren Vermietern, die uns die wunderschönen Räume für KAFFEE.SATZ.LESEN zur Verfügung stellen. Ja, es sei also so, sie hätten „mehrere“ Beschwerde-Mails bezüglich der Nikotin geschwängerten Luft bei KSL erhalten, einige Menschen drohten darin gar, KSL in Zukunft fern zu bleiben.

Abgesehen davon, dass ich in den DREI Jahren unseres Bestehens noch niemals Beschwerden in diese Richtung gehört hatte, wunderte ich mich auch schon ein bisschen, dass die Mails nicht an die leicht zu findende Adresse der Veranstalter, sondern an die schwer zu ermittelnde Mailadresse der Vermieter gingen. Egal, ich rief den Kollegen Svensson an, ein toleranter Mensch, der gerne Lesereihen veranstaltet und der a.) auch noch nie eine Beschwerde in diese Richtung gehört hatte und b.) überhaupt sehr tolerant ist und darum sagte, ihm sei es wurscht. Die Liebste, die oft an der Kasse sitzt, bestätigte aber, dass sich pro Lesung 1-2 Personen über den Rauch beschweren, boah, die Qualmen schon wieder, boah, wie das stinkt.

1-2 Personen von durchschnittlich 150 Besuchern pro Lesung. Doch was ist mit den Schweigern, wie viele Toleranzler gibt es und wieviele Raucher stehen dem entgegen? Seufz.

Svensson und ich haben KSL so gestaltet, wie es uns gefällt. Für mich als Raucher war immer klar, und das wurde nie diskutiert, dass bei KSL geraucht werden darf. Vor der Lesung, in der Pause und nach der Lesung. Ich habe KSL auch nie als rauchfreie Hochkultur-Messe betrachtet, sondern immer als Club-Literatur-Veranstaltung, na klar wird da geraucht, die meisten Autoren rauchen, große Teile des Publikums ebenfalls. Jetzt nach dreijährigem Bestehen gibt es plötzlich ein Problem. In den letzten Monaten sind die Zuschauerzahlen explodiert, damit haben sich auch die Rauchschwaden ausgeweitet und weil grad Winter war, konnte auch nicht so viel gelüftet werden. Da kommt einiges Zusammen.

Ich muss jetzt reagieren. Sonntag spreche ich vor der Lesung mit den Vermietern. Und da gibt es verschiedene Möglichkeiten:

Die erste Lösung wäre, ich stelle mich hin, sage, das hier ist KSL, hier wird geraucht, es gibt fünf Autoren für unglaublich günstige fünf Euro Eintritt, günstig frisch gebackenen Kuchen und Getränke und wem das Rauchen nicht passt, der muss ins rauchfrei Schauspielhaus gehen. Wir müssen sowieso schon Publikum nachhause schicken, weil es immer so voll ist, da haben die Raucher bei uns einfach mal Glück. KSL bleibt eine Enklave des Rauchgenusses, vorschriftenfreie Club-Literatur. In jeder Bar, in den meisten Restaurants, auf Rockkonzerten wird auch geraucht, KSL gehört dazu. Rauchverbot, ohne uns. Jetzt wird es Frühling, wir lüften einfach öfter und verzichten auf militante Nichtraucher, die uns auch in anderen Bereichen zunehmend das Leben schwer machen. It´s my party and I smoke if I want to.

Zweite Lösung: es wird nur noch in der Kantine geraucht. Ich stelle mir vor, wie 80 Raucher geballt das Kuchenbüffet vollquarzen, kein Durchkommen mehr, der Rauch zieht trotzdem in den Saal. Riesen Gequengel von beiden Seiten, im pifigen Raucherzimmer für Erwachsene.

Dritte Lösung: KSL wird rauchfrei. Mein persönlicher Albtraum. Ich rauche vor der Moderation heimlich in der Toilette, weil ich es ohne nicht schaffen werde. Nervöse Autoren kämpfen mit Entzugserscheinungen. In der Pause verlassen große Teile des Publikums den Saal um vor der Tür zu rauchen. Entspannte Gespräche? Kommunikative Begegnungen? Vorbei. Nach der Lesung gehen alle noch schneller Nachhause. Die schlimmste Befürchtung die ich aber bei diesem Modell habe, ist der Umstand, dass jemand das Rauchverbot auch durchsetzen muss. Und das werde definitiv nicht ich sein!!! Spießige Rauchverbotsschilder an die Wände hängen und erwachsene Leute anquatschen: „du, äh, ne du, ich bin der Paulsen, du ich find das nich gut, das du hier rauchst, weißt du, da machst du auch andere Leute krank mit und bei uns ist Rauchen auch voll verboten."
Das könnt ihr vergessen. Das mach ich nicht. Es findet sich aber sicher jemand der das macht. Dann muss ich mich „nur noch“ fremdschämen. KSL goes Schrebergarten-Blockwart-Mentalität.

Ich muss jetzt reagieren. Wie würden sie entscheiden, als Raucher, als Nichtraucher, als Veranstalter?

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