Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 11. September 2006
Septemberhimmel

Am Flughafen kaufe ich mir Zeitschriften und Zeitungen die den 11. September thematisieren. Ich kaufe mir Sonderausgaben mit beigelegten DVDs, ich kaufe mir Magazine die unveröffentlichte Fotos versprechen. Den Jahrestag begehen. Im Flugzeug lese ich den neuen „Feinschmecker“, esse das gereichte „Graupenrisotto“, dann schlafe ich ein. Letzten Samstag habe ich bei McDonalds die Hamburger Morgenpost gelesen, darin ein Bericht von einem Mann, der seine Frau in den Türmen verloren hat. Nicht nur verloren, sie war weg, einfach so, lange Zeit. Viel später haben sie in den Trümmern einen Knochen gefunden, der zweifelsfrei seiner Frau zu zuordnen war. Der Mann hat viel getrunken bis zum Zeitpunkt des Fundes: „Morgens, mittags, abends.“ Dann ist er ins Internet, hat seine Frau gesucht, jahrelang, dann im Internet ein Bild gefunden, nach Jahren. Seine Frau ist gesprungen. Beige Hose, schwarzer Pulli, ihr Haar. Auf dem Foto bildet ihr Körper ein V, den Rücken zur Strasse gekehrt. Den nebenstehenden Artikel über einen Feuerwehrmann, der half die „Springer“ am nächsten Tag aus den Bäumen zu holen, den habe ich nicht mehr gelesen, meine Augen haben getränt, plötzlich, im McDonalds an der Hoheluftchaussee am Samstagmittag.
Ich bin ein verantwortungslos unpolitischer Mensch, ich interessiere mich trotzdem für Menschen und das schlimmste am 11. September sind für mich die Menschen die gesprungen sind. Kein Bild vergessen. Wie könnte jemand. Aber die starren Leiber, wie eingefroren in der Luft die nicht rettet, die fallenden Menschen vor diesem rasenden Fliesband aus Fenstern, winzig kleine Punkte im Regen aus Asche und Gestein, auf Fernsehbildern rot umrandet und später auf Fotos groß gezoomt, das ist für mich immer noch unerträglich und doch begreifbar näher als die Flugzeuge die sich in die Türme bohrten. Ich möchte allein sein mit dem 11. September und ich lasse die Zeitschriften im Handgepäck stecken.

Am Flughafen Barcelona verstöre ich mutwillig einen Menschen, nach all den Jahren. Sie erkennt mich am Kofferband, freut sich offensichtlich mich zu sehen und ich erkenne sie auch sofort, tue aber so, als könne ich mich nicht erinnern, lasse ihre Herzlichkeit ins Leere laufen und sage: „äh, hilf mir, Du bist...?“ Vor vielen Jahren, in einem anderen Leben mit anderen Schwerpunkten, hatte sie mich einmal sehr verärgert, sie hat sich längst entschuldigt, aber ich bin ein Elefant, Madame, und ich hätte es nicht planen können, es passierte einfach, die Begegnung und meine Entscheidung so zu reagieren. Wundernd, was für ein kalter, nachtragender Ekel ich sein kann, was für ein kalter, nachtragender Ekel ich bin, trete ich aus dem Flughafengebäude und zünde mir eine Zigarette an. Sie haben das „Mango“-Werbeplakat auf der anderen Straßenseite ausgewechselt. Die Frau mit den unglaublich schönen Füßen und den unglaublich schönen Schuhen ist verschwunden. Gegenüber knöpft sich ein dunkelhaariges Model ihre Bluse auf und schaut dabei überrascht zu mir herüber.

Dieser Moment: die Füße schon im nassen Sand, die erste Welle umarmt die Füße, nur kurz, zieht sich zurück und ich weiß, das Wasser ist perfekt. Ich laufe hinein, ein paar Meter, springe, es wird ein Fisch aus mir, ein steifer Fisch schießt durchs Wasser, den Körper gerade ausgestreckt, kein Widerstand, fliegen, ein paar Meter, bis die Luft ausgeht. Auftauchen aus der Stille, sofort der geschwätzige Strand und dieses Gefühl, dass ich hier schon oft hatte, Undankbarkeit.

Vorher im Supermarkt, dankbar, dass überhaupt ein Supermarkt offen ist am Sonntag und trotzdem keine Petersilie. Danach nach Sitges, wegen der Petersilie. Morgen brauche ich Petersilie, alle Rezepte sind mit Petersilie, wir können ohne Petersilie nicht arbeiten, Morgen sowieso nicht, denn da ist Feiertag hier. In Sitges haben alle Geschäfte geöffnet, nur nicht die Supermärkte, selbst der Gemüsehändler des Teufels in der Calle Jesus hat geschlossen und schaut wahrscheinlich den Papstbesuch.

Wie sich das Land, wie sich die Stadt verändert hat! Die Konturen sind weicher, das Grelle ist weg. Der marktschreierische Sommer ist vorbei und hat noch ein bisschen Wärme da gelassen. Unweit der Kirche entdecke ich ein Steakhouse, direkt am Wasser. Ich bin noch nie weiter als zur Kirche gegangen, schön ist es hier. Am Strand spielt ein Rasta mit seinem Hund. Der Abendhimmel ist so blau, man könnte diesen Himmel nicht malen, man kann diesen Himmel nicht fotografieren. Ein einzigartig blauer Himmel zum selber merken. Schön ist das, eine Herausforderung. Ich bestelle ein Steak und Beilagen. Katalonien und ich, wir müssen uns keine kulinarischen Geschichten mehr erzählen, es gilt einen Frieden zu bewahren, Erwartungen und Enttäuschungen müssen sich nicht mehr balgen, wo doch sogar der Himmel sich weich und unfassbar gemacht hat.

Am Tisch vor mir sitzt eine junge Frau. Sie ist unglaublich dick und allein. Ihr Dicksein hat sie selbstbewußt unterstrichen, ihre Kleidung ist ein Ausrufezeichen. Der Busen der Blonden wippt haltlos in der ausladenden Bluse, rot gebrannte Beine quellen aus einem kurzen Schlauchrock. Ihr rot geschminkter Mund ist klein, schmal und verkniffen, die Augen winzig. Engländerin, denke ich und erschrecke nicht zum ersten Mal am heutigen Tag über mich, aber weil ich gerade sowieso unmöglich drauf bin, bin ich zudem gespannt, was sie bestellt, die fettleibige Engländerin. Cola kommt und eine Wurst mit Salatbeilage. Die Wurst lässt sie zurückgehen, die ist kalt, sagt sie auf Englisch. Die Wurst kommt mikrowellig wieder, sie streichelt die Wurst kurz mit ihrem dicken Daumen, nickt und isst. Sie achtet auf ihre Linie, denke ich, kleine Bratwurst mit Salat, sie gönnt sich was, denke ich. Dann kommt ihr Steak. Ribeye, 500 g, mit Backkartoffel und Sauerrahm. Neidisch sehe ich zu ihr rüber. Auf meinem Teller dieser dünne Lappen, ein Rumpsteak, 200 g, das kriegt kaum ein Koch medium, war doch irgendwie klar. Ist auch kalt. Ich esse klaglos, sehe in den Himmel. Da dreht ein Paraglider seine Runden, auf dem Rücken eine Art Ventilator, Karlsson vom Dach. Er wedelt mit den Beinen und schreit euphorisch, umkreist Kirche und Restaurant in hoher Luft, knatternd dreht er seine Runden über dem stillen Meer. Er wird niemals abstürzen. Er fliegt. Petersilie, denke ich.

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Sonntag, 10. September 2006
Seufz.

Gracias a Dios: solo una semana!
(file under: meine Sorgen möcht ich haben)

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Freitag, 8. September 2006
Herr Paulsen schreibt einen Brief. Heute: an das Frischeparadies Goedecken


So geht es doch auch!

Moinmoin, Frischeparadies Goedecken,

Ihr seid ja nun mal „Deutschlands größter Spezialmarkt und Lieferant für feinste Lebensmittel“, und das sieben Mal in Deutschland, da kauf ich natürlich auch gerne ein! Allein Eure begehbaren Kühlhäuser, Knaller, jetzt mal echt! Und selbst das Bezahlen macht Spaß, alles so elektronisch, mit leise surrenden Kontoauszugsdruckern. Beim Anstehen an der Kasse, kann man auch prima Leute kucken, denen Geld egal ist, weil sie genug davon haben. Immer wenn ich denke, ja Mensch, Deutschland geht es schlecht, dann fahr ich Samstagvormittags zu Euch und stell mich ein bisschen an der Kasse an. Und da geht so einiges! Kaviar satt, Wintertrüffel, Gänsestopfleber und Menschen die sich mit der Hand an die Stirn schlagen und rufen: „Hach, der Champagner reicht nicht, Friedhelm, hol doch noch mal sechs Flaschen!“. Selig-satte Elb-Vorortler die dann die Einkäufe nicht in Ihre kleinen Sportwagen bekommen, „Cordula! Ziehen, nicht drücken!“

Geschmälert werden die Einkaufswonnen nur durch diese spießigen Einkaufsbon-Überprüfer, die stundenlang jeden Posten durchgehen, weil sie aufs Geld schauen müssen und dann den Preis für Porree ausdiskutieren wollen. Furchtbar, die müssen eben zum Sparmarkt, wenn sie sich das nicht leisten können!
Na und gestern, da steh ich da so mit der Liebsten und wir machen gerade das Band richtig voll mit Ware, Abends Gäste, da lassen wir uns nicht lumpen. Als die Kassiererin, dann erschöpft den Scanner weg gelegt hat und als sie uns dann den Preis genannt hat, da hab ich aber mal blöd gekuckt. Erst auf die Ware, dann noch mal auf den Computerausdruck und dann in den Geldbeutel. So gut geht es Deutschland dann ja doch nicht.

Den ganzen Verkehr haben wir aufgehalten und mal den Bon überprüft, das war „so ein Gefühl“. Und mit unserem Gefühl geht es ganz gut, haben wir festgestellt und das Ihr uns statt 2 Baguette einfach mal 21 Baguette berechnet habt und statt 2 Bechern Mascarpone durfte ich gleich 21 Becher bezahlen. Insgesamt 59 Euro zuviel bezahlt. Klar hat die Kassiererin gemurrt und immer so mit den Augen gerollt, weil sie jetzt die Kasse schließen und mit uns ins Büro musste. Auch die Elb-Vorortler waren ungehalten, wird ja alles schlecht, die schöne Ware, beim Warten. Tut mir leid. Verstehe ich. Auch dass sich die Kassiererin nicht entschuldigt hat für den versuchten Raub, ach egal. Nur die Begründung für den Fehler, die hat mich dann doch verblüfft. Ja, ich hab schüchtern nachgefragt und die Kassiererin hat mir das in Ruhe erklärt: „Die spinnen immer, die Computerkassen.“ Ach, das passiert öfter? „Ständig.“

Sach ma, Frischeparadies Goedecken, noch ganz frisch oder was? Spendet Ihr eigentlich den so eingenommenen Mehrwert an die armen, hungernden Negerkinder in Afrika? Oder spart Ihr das Geld für eine neue Computerkasse? Bis zur Klärung dieser Fragen, kaufen wir jedenfalls nur noch im Sparmarkt.

Geht am Wochenende für 59 Euro Party machen,

Bonprüfer Paulsen

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Dienstag, 5. September 2006
Testesser Paulsen berichtet: Kulinarisches Roulette bei Henssler&Henssler

Ja, gut, es war eine Schnapsidee. Nein, eigentlich eher eine kretischer Raki-Idee als mein Freund Demis, die Liebste und ich Samstagnacht beschlossen, am Montag zusammen essen zu gehen. Montags hat alles zu in Hamburg. Montags schmiert man sich in Hamburg Schnittchen in Heimarbeit. Nach einigen nächtlichen Telefonaten erfuhren wir, dass die Herren Henssler, ganz unhanseatisch, auch Montags empfangen. Viel hatten wir gehört, dort gäbe es das beste Sushi Hamburgs/Schleswigholsteins/Norddeutschlands/Deutschlands, vollmundige Lobeshymnen hatte man mir gesungen auf die kreativen Erneuerer der traditionellen, japanischen Küche, „Cuisine Pacifique“ nennen es die Hensslers selbst.
Nun ist Sushi für mich nicht gerade eine abendfüllende Veranstaltung, mit verhaltener Erwartung betrete zumindest ich das Restaurant.

Hamburgs blonde Töchter wuseln aufmerksam durch schlichte Tischgarnituren, über hundert Sitzplätze finden sich in der geweißelten Lagerhalle, die sich im Verlauf des Abends in eine Echobox lautstarker, stimmlicher Lebensfreude verwandeln sollte. Ruhe herrscht allein in der offenen „Show“-Küche. Da steht, neben Sohn Steffen Henssler, vorwiegend asiatisches Personal, würdevoll-konzentriert wird roher Fische portioniert, in gleitenden Bewegungen, keine davon scheint überflüssig. Derweil begrüßt Vater Werner Henssler mit bodenständigem Händedruck und holsteiner Zungenschlag sein Publikum. Der Mann der Hamburg seinerzeit mit dem „Petit Délice“ beglückte, wirkt wie ein Jachtbesitzer auf Landgang, sonnenverwöhnt, das blaue Hemd lässig aus der Hose gezogen, die obersten Knöpfe schaffen Luft.

Der erste Gang entzückt: Sashimi vom Loup der Mer mit einer leichten Pfeffermayonnaise und feinen Gemüsen in einem asiatischen Pesto. Langsam schmecke ich auch wieder was, nachdem ich leider vorweg vom gereichten Pizza-Brot genascht hatte. Dünn wie Papadam und derartig scharf, dass ich mehrere Minuten nicht mehr schmecken konnte, ob sich in meinem Glas der Grüne Veltliner von Bründelmayer oder doch der Riesling von Fritz Haag befindet. Nur kurz währt die Gaumenberuhigung, ein Testbissen von Demis Teller verschlägt mir schnell wieder den Atem. Der feine Gurkensalat zum rohen Thun ist mit grobem, schwarzen Pfeffer gewürzt, die vielen halben Pfefferkörner entfalten beim Kauen ihr ganzes, tränentreibendes Aroma, der Fisch verschwindet unter Schmerzen. Puh.

Linderung versprechen die rohen Thunfischwürfel auf nußigem Kartoffelpüree und einer schaumigen Fischsauce. Ein Traum, diese Kombination von heiß und kalt, dem butterzarten Thun und dem cremigen Kartoffelpürree. Die kalifornischen Sushi sind mit einem frittierten Krebs gefüllt, dessen Pergamenthaut so dünn ist, das man sie mitessen kann, erzählt man uns. Ja, knusprig, aber es schmeckt nach Frittierfett. Auch die zweite Sushirolle macht nicht glücklich, der Thunfisch in guter Qualität, leider begleitet von einem dicken Stück Surimi. Diese Industriescheiße aus pürierten, gepressten Fischresten, gefärbt mit gerösteten, gemahlenen Schalentierpanzern, gehört verboten.

Die Liebste lacht. Demis und ich rutschen aufgeregt wie Kinder auf den Stühlen herum. Gleich kommt der Hauptgang. Wir haben zum Hauptgang Kobe Beef vom Wagyu Rind bestellt. 50 g für 17,90 Euro steht auf der Karte. Wir haben 50 g bestellt. Gleich kommts!
Da kommts: fünf gebratene Würfelchen in leichter Sojasauce, dazu ein Topf voll grüner Bohnen mit Meersalz, die Bohnen in der Schote, „so zum selber rauslutschen“, erklärt man uns. Andächtig senke ich die Stäbchen, der erste Würfel wird zum Mund geführt, da, so geht die Sage, sollte das Fleisch der handmassierten und gesalbten Rinder „schmelzen“. Da schmilzt aber nix, das Fleisch ist zwar halbwegs zart, aber leider durchgebraten! Unglaublich. Kulinarische Neugier verschafft oft unbezahlbare Erlebnisse, manchmal muss man dafür aber einfach nur bezahlen. Die komplett versalzenen Bohnenkerne zum selber pulen machen es auch nicht besser. Die Liebste freut sich derweil über ein perfekt gebratenes Stück Kabeljau auf würziger Tomatenconfit und mit krachendem Speck serviert. Demis und ich sind missgestimmt. So soll der Abend nicht enden. Wir bestellen gegrillte Scampi auf Tomatenconfit. Die kommen mit der schon oben gelobten Fischsauce und dem oben gelobten Kartoffelpüree, das diesmal in einen stehenden Zylinder aus knusprigem Frühlingsrollenteig gestopft wurde. Und kalt ist. Die Scampi sind schwarz gegrillt und beim Auslösen der trockenen Schwänze bröckelt es schwarz in die feine Tomatenconfit und die zarte Sauce. Jetzt schmeckt alles verbrannt. Das missglückte Barbeque schlägt mit 27 Euro zu Buche. Für nur 11 Euro mehr bieten die Hensslers ein Vier Gänge Menü an. Neben der ärgerlichen Küchenleistung verwundert hier doch sehr die Preiskalkulation.

Irgendwie müssen wir den Holzkohlegeschmack loswerden. Wir bestellen Desserts. Das gebackene Eis der Liebsten mit gekochten Holunderbeeren ist eine Offenbarung, große Kunst. Mein Sauerrahmeis ist meisterhaft pur, veredelt mit einem Hauch Limette, Demis Nougateis zum reinlegen gut. Wir verstehen die Welt nicht mehr, angesichts derartig schwankender Küchenqualität schmieren wir uns nächsten Montag wieder Schnittchen, denn wir kamen zum Essen, nicht zum Roulette spielen.

Henssler & Henssler. Restaurant und Sushibar.
Große Elbstraße 160
22767 Hamburg
Website: http://www.h2dine.de/

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Sonntag, 3. September 2006
Schöner Sonntag.

10:00 Uhr
Schöner Gedanke am Sonntagmorgen: Mehr hätte ich beim blogmich auch nicht trinken können.

12:00 Uhr
Sehr schön und gerne Sonntags: die Brötchenfrage

12:30 Uhr
Nicht schön, aber immer öfter: Identitätskrise beim einloggen in diverse Internetlocations und die Frage: wer war ich nochmal gleich?

Und jetzt:

274 Minuten schöner Hören

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Samstag, 2. September 2006
Im Rückwärtsgang nach vorn: Sebastian Sturms Album "This change is nice"


Foto: Chris Krohm

Da rieben sich German Reggaeheads verwundert die Lauscher: eben noch lief die Platte von Martin Jondo auf heavy rotation, diese dicke, deutsche Wunderscheibe, ein einmaliges Roots-Album, brillant rückwärts gewand. Dass es so was überhaupt gibt, seufzte die dancehallmüde Massive und drückte glückselig auf rewind. Ich schrieb es damals unter meine Besprechung des Jondo Albums „viele Reggaeheads haben nach brachialen Dancehallgewittern, der schändlichen Unterwanderung durch klebrigen R´n´B sowie hektischen Reggaetone-Hüpfburg-Socca-Partys einfach wieder Sehnssucht nach dem puren, minimalen Stoff.“ Der ist aber nicht so einfach zu produzieren wie lärmender Spaß-Reggae aus dem Computer, da braucht es eine große Stimme und echte Musiker. Erstaunlich, das Wunder geht weiter: ein bislang relativ unauffälliger Sänger mit dem bürgerlichen Namen Sebastian Sturm, hat mit der Aachener Band Jin Jin („wir verstehen uns als Buena Vista Social Club des Reggae“) ein weiteres, bombastisch gutes Roots-Reggae-Album veröffentlicht. Den 26 jährigen Sebastian Sturm ein Talent zu nennen, wäre eine Frechheit, der Mann weiß was er kann und er kann es. Schnörkeloser, authentischer Reggae direkt aus den 70ern, eine Gänsehaut-Stimme zu fetten Bässen mit prallen Bläsersätzen, es tuckert und pluckert mitreißend auf der Platte „This change is nice“, die am 15.09.2006 erscheint, bei iTunes aber bereits vorliegt. Ein Meisterwerk.

Sturm verzichtet im Gegensatz zu Jondo auf jegliche Art moderner Einflüsse, hier gibt es „nur“ den puren Stoff, ruhig, deep und cool. Das muss man mögen, wer es mag wird diese Platte lieben! Den vergleich mit Marley schenke ich mir, Sturm selbst eröffnet sein Album mit einer Coverversion von „Kinky Reggae“, ein gewagter Zug, aber was soll ich sagen, „Kinky Reggae“ klang nie dicker, eine äußerst gelungene Verbeugung vor dem, leider tot genudelten, Gott des Reggae. Die übrigen 13 Tracks gehören allesamt zum Besten was es in den letzten Jahren aus der Roots-Rock-Schublade zu hören gab. All killers, no fillers. Im Rückwärtsgang nach vorn. Ein Meisterwerk, sagte ich es schon?

..................Links zum Thema

Sebastian Sturm
http://www.sebastian-sturm.com/

Jin Jin
http://www.jinjin.de/index2.html

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Donnerstag, 31. August 2006
Hier platzt der Kiosk: Doppelheft-Strategie

Mein Beruf fordert, dass ich Zeitschriften lesen. Eine Menge Zeitschriften. Viele sind gar nicht für mich gemacht, da muss ich durch. Bei den meisten Zeitschriften überfällt mich schon seit Jahren eine gewisse Entertainment-Langeweile, das Gefühl, alles schon gelesen und gesehen zu haben, immer der gleiche Schlamm aus Fitness-Tipps, Schmorgurken-Rezepten, Frau-Mann-Problematiken, unlustigen Glossen, albernen Kolumnen und unscharfen Promibildern. Die ewig gleichen Fotostrecken neu fotografiert und doch nur Bekanntes belichtet. Ich werfe jetzt mal fünf Euro ins Phrasenschwein: man kann das Rad nicht jede Woche / jeden Monat neu erfinden, aber weiter drehen dürfte es sich schon mal. Es fehlt der Mut, die Leser zu fordern, inhaltlich und layout-technisch neue Wege zu gehen. Und alle Zeitschriften gibt es unendlich oft geklont am Kiosk. Wer braucht bitte 30 Kochzeitschriften gleichen Inhalts, wer braucht hunderte von Frauenzeitschriften mit Frühjahrsdiät-Plänen und Psychotests, wie oft kann man sich am Landhausstil berauschen? Die wenigen innovativen Blätter der Republik rutschen am Bahnhofskiosk hinter den Heizkörper.

Der Zeitschriftenmarkt stagniert und sehr spät stellten die großen Verlage erstaunt fest, dass aus einem kurzfristigen Tief ein ausgewachsener Trend geworden ist. Schuld ist der Bürger, der mehr Zeit vor dem Computer verbringt, statt im wiederkäuenden Blätterwald. Sagt die Statistik, sagen die Verlage. Ich glaube es fehlt der Wille zur Innovation und ich unterstelle einfach mal, dass Zeitschriften heute von den Vorständen gemacht werden und nicht mehr in den Redaktionen. Finanzielle Überlegungen entscheiden mehr den je über Blattinhalt und Kurs. Wichtig ist es am Markt zu sein, mit was ist wurscht, Hauptsache man macht der Konkurrenz druck, oder druckt das Konkurrenz-Produkt gleich im eigenen Haus.

Wie weit viele deutschen Blattmacher vom Blatt machen entfernt sind, zeigt der neuste Trend. „Doppelheft-Strategie“ nennt sich das und meint, ein Heft beinahe identischen Inhalts zweimal zu verkaufen. Den Anfang macht „Frau im Spiegel“. Mit neuem Namen „Look“ und anderem Cover, sowie sechs (Quelle:kress) redaktionell geänderten Seiten, geht der G&J-Zwilling an den Kiosk um alten Wein in neuen Schläuchen an eine jüngere Zielgruppe zu verkaufen. Noch nicht verkauft und schon Altpapier. Ein weiterer Schritt in Richtung Kiosk-Vermüllung, die nur mit konturlosesten Print-Erzeugnissen möglich ist. Und davon gibt es eine Menge in Deutschland.

Macht ja nix, könnte man sagen, wir sind mündige Bürger und müssen den Rotz ja nicht kaufen, schon gar nicht doppelt-gemoppelt. Was mir aber die Zornesadern schwillen lässt, ist der Umstand, dass es so viele gute Zeitschriften aus Kleinstverlagen gibt, die jeden Monat um ihre Existenz kämpfen müssen, weil Vertriebswege und Reichweiten der Großen nicht erreicht werden können. Und weil schon jetzt kein Platz mehr ist am Kiosk, höchstens hinter dem Heizkörper. Vor dem Heizkörper steht aber leider das „Doppelheft-Strategie“-Regal, die Einfallslosigkeit der Vielfalt versperrt den Blick.

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