Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Sonntag, 11. Juni 2006
Señor Paulsen geht aus: Gay in Sitges

Samstag. Ich muss hier raus. Ich spreche schon mit mir selbst. Lagerkoller, nach einer Woche. Jeden Tag zwölf Stunden Arbeit, danach todmüde ins Gästehaus. Es geht mir nicht gut, ich bin erkältet. Seit Tagen. Unsere Freiluftlocation steht am Berg, mitten im Massif de Garraf, zwischen Gipfelkreuz und Meeresstrand. Eiskalte Winde wehen beständig von allen Seiten. 25 Grad? Don´t belive the hype! Ich wechsle ständig von der mollig-warmen Küche hinaus ins böhige Gebirge, Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Die Winde wehen jede Kräuterdeko von den angerichteten Tellern ins Panorama, wir haben schon versucht dem Kunden die fliegenden Minzeblätter als „state of the art“-Bewegungsunschärfe zu verkaufen. Sie glauben uns nicht.
Ich muss hier raus. Wir haben vorgearbeitet und früher Feierabend gemacht, um 19.00 Uhr stehe ich mit fiebrigem Kopf und schmerzendem Hals am Bahnhof. Links geht es nach Barcelona, rechts nach Sitges. Ich bin zu schwach für Barcelona, in Sitges bin ich mit dem Zug in sechs Minuten. Also Sitges. Ich warte auf dem menschenleeren Bahnsteig, aus Lautsprechern säuselt leise Easy Listening mit Streichern, sonst ist es still, nur der grüne Bambus raschelt entlang der Gleise, dahinter das Meer. Das in schwarzweiß, es wäre Fellini.

Sechs Minuten in ein anderes Leben. Eine Stadt! Menschen! Und die Sonne scheint. Weil hier die Berge endlich im Meer verenden, gibt es in Sitges auch Abends noch Sonne, während zur selben Zeit im kleinen Dorf schon der Schatten des Hausberges alles erschlägt. Ich scheiß auf Berge! Immer schon. Teile meiner Kindheit verbrachte ich, ungefragt, verschleppt und unglücklich, in der Dunkelheit des Bregenzer Waldes in Österreich. Meine Eltern liebten sinnloses Wandern in dunklen Wäldern, meist goss es dazu aus Kübeln, wahlweise drohte ich bei sengender Hitze auf steinigen Bergkämmen zu kollabieren. Von Pferdebremsen zerstochen, blinzelte ich durch brennende, pollenverkrustete Augen auf unscharfe Gebirgskettenzüge und beantwortete, asthmatisch röchelnd, die Fragen meines Vaters nach den Namen der noch zu erklimmenden Gipfel. Meine Daumen waren dunkel gefärbt von einer ätzenden, braunen Tinktur. Nicht mal Daumen lutschen durfte ich, in höchster Not. Berge? Da scheiß ich drauf.
Sitges ist das Ende des Massif Garraf, hier wird der Stein zu Sand und alles gut an der Costa Dorada. Übervoll sind die lebendigen Gassen, bunte Häuser mit bemalten Kacheln verziert, kleine Schlösser im maurischen Stil, kühle Innenhöfe unter flirrenden Palmendächern. Designerläden, Modegeschäfte, Musik. Populärmusik! (Der kleine Sohne des Fotografen spielt seit Tagen ununterbrochen eine katalanische Einspielung von Mozarts „Zauberflöte“. Wer mich kennt, weiß wie ich leide.) Der Duft von feinster Patisserie zieht durch die Sträßchen, Restaurants, Bars, Cafés und schöne Menschen gibt es hier, wirklich schöne Männer.
Sehr viele schöne Männer. Willkommen in Sitges. Sitges ist die Hochburg schwulen Urlaubens in Spanien, hier entspannen die attraktivsten Männer Europas, jene, die Frauen als „beste Freundinnen“ haben. Das mit der Attraktivität ist, glaube ich, nicht übertrieben, ich staune. Hier gibt es kein Getucke, große Gesten werden vermieden, verunglückte Haarfärbe-Versuche in Heimarbeit sucht man vergebens. Der schwule Mann in Sitges trägt 2006 zum elegant angegrauten Schläfenhaar ein passgenaues, dunkelblaues Business-Hemd, kombiniert mit heller Leinenhose und handgenähtem Schuhwerk in Kombination mit einem Hauch Bodybuilding. In Sitges findet auch jedes Jahr das „Sitges International Film Festival of Catalonia“ statt und darum gibt es hier auch eine kleine Croisette, eine Palmen umjubelte Flaniermeile am Meer, die Bongotrommel-Tourette-Boygroup gibt es gratis dazu. Und genau dort übertreiben es die Jungs ein wenig. Als ich nämlich am Strand eintreffe, findet gerade das Endspiel eines Beachvolleyball-Turniers unter Regenbogenflaggen statt und ich habe mich noch nie so schlagartig so hässlich und fett gefühlt. Ich brauche was zu trinken.

Unter weicher, warmer Abendsonne lasse ich ein eiskaltes Bier über meine rauhen, brennenden Bronchen laufen und stelle fest: auch Schwule sind nur Pärchen. Gezicke am Nachbartisch, da sitzen zwei George Clooney-look-a-likes und kucken gemeinsam beleidigt ins Abendrot:„MUSST du jetzt NOCH ein Bier bestellen?“ „Ja, muss ich, ich bin nämlich im Urlaub.“ „Aber wir wollen doch gleich noch zu Pepe, ich finds ekelig, wenn du da schon WIEDER am frühen Abend mit einer Bierfahne auftauchst!“ Unsoweiterundsoweiter. Ich bestelle sofort noch ein Bier, ich darf das, ich bin nämlich hier auf Arbeit und dieser Pepe ist mir völlig unbekannt. Überhaupt, ich habe heute Lust mich zu betrinken. Hunderte von Bars und Restaurants locken, doch Krankheit und die katalanische Sonne zermürbten mich. Schon nach dem dritten, kleinen Bier bin ich eine ordentliche Feuereule, wie Arne Rautenberg den guten Rausch in seinem lesenswerten Buch „Der Sperrmüllkönig“ (2002, Hoffmann und Campe) nannte.

Ersmawasessn.

Sitges sei, so erzählt zumindest das Internet, die Hochburg (hier häufen sich ja die Hochburgen!) der katalanischen Kulinarik. Meine Rundgänge durch die historischen Gassen bestätigen diesen Eindruck, es gibt alles. Nationales unter Neonlicht, Folkloristisches in kerzenbefunzelten Kemenaten. Es gibt auch Sushi, Pizza, Burgerking, aber dazwischen immer wieder beeindruckend schöne Restaurationen, in einem Laden wird sogar Jahrgangsschinken angeboten, Bellota, einige sagen, der beste Schinken der Welt, frisch vom Schweinebein Jahrgang 2002. Ich komm nur leider nicht rein. Kein Platz für EINE Person. An den erkennbar guten Restaurants haben sich Schlangen gebildet, katalanische Großfamilien warten neben graumelierten Herrenpärchen in Businesshemden auf einen freien Platz. Kein Platz für alleinreisende Genusssucht, nach dem dritten Mal Schlange stehen gebe ich auf (es hätte dort Hähnchen gegeben, die vor einer züngelnden Feuerwand gebraten werden!). Ich finde dann doch noch eine Tapas-Bar die mich gnädig aufnimmt, im „Talino“ weist man mir mürrisch das letzte freie Tischlein zu, direkt unter dem Fernseher auf dem das WM-Spiel Argentinien gegen Elfenbeinküste in Hamburg läuft. Sehr schön, alle Gäste sehen mir beim Essen zu, derweil ich skeptisch die Schrauben der Fernseh-Halterung über mir beobachte. Das Spiel wird natürlich in spanischer Sprache kommentiert, das macht mir aber nichts, ich verstehe sonst auch nicht mehr von Fußball. Das Essen ist Gott. Die Calamares butterweich in knusprigem Weinteig, die Croquetas, eigentlich eine Zumutung, erinnern mich glückselig an gute Kindheitstage (panierte Pilztaschen aus der Tiefkühltruhe von Iglo), der gegrillter Fleischspieß (Pincho Moruno) ist saftig und zart. Ein letztes Bier dazu und als Krönung meinen ersten Carachio, ein starker Kaffee den man wahlweise als Carachio mit Whiskey oder als Carachio mit Brandy bestellt. Da ich meinen Whiskey lieber ohne alles trinke, nehme ich die Brandy-Version. Die Feuereule breitet ihre Schwingen aus und macht sich glücklich auf den Heimweg.

Zug weg. Ich nehme ein Taxi. Gute Wahl. Die Heimfahrt dauert fast 25 Minuten, denn während sich der Zug durch alle blöden Berge bohrt, kurvt das Gelbe durch Spaghetti-Serpentinen, dass einem schön schlecht werden könnte, sähe man nicht aus dem Fenster über die Leitplanken aufs Meer. Aus sternenklarem Himmel wirft der volle Mond ein breites Band aus geschmolzenem Blei über die dunkle See und befriedet mit der vergangenen Woche.

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