Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Samstag, 18. Februar 2006
150 Kilometer New Wave (der dicke Patschulke und ich)

Rauchgrauer Dunst hängt träge zwischen den Kränen der Hafenterminals als ich aus dem Elbtunnel auftauche, es wird nur zögerlich Tag und auch ich entknittere nur langsam auf meinem Weg zum nächsten Job. Raus aus der Stadt, 150 Kilometer liegen vor mir, ich schiebe die Selbstgebrannte in den Schlitz und drücke den Pfeil. Ein schwerelos schwebendes Glockenspiel, dramatisches anschwillendes Gewaber, ein kristalliner Synthesizer, eine schneidende Stimme:

Here in my car
I can only receive
I can listen to you

Großartiger Song und Gary Numan hat Recht. Ich höre am liebsten Musik im Auto, im Auto bin ich am empfänglichsten für Musik, höre wirklich hin und zu. Auch wenn Gary Numan was anderes gemeint hat.

Bauhaus. „She´s in partys“. Ich beschleunige gänsehäutig. Neulich ein Bericht auf ras.antville vom Bauhaus-Konzert in Berlin. Ich saß Abends vor dem Computer und hatte plötzlich eine unglaubliche Hörsucht nach Bauhaus. Es muss ja heute niemand mehr aufstehen für Musik, jeder Song dieser Erde ist nur Mausklicks entfernt, im Wohnzimmer welkt die Plattensammlung zur staubigen Gedenk-Deko. Und ein großer Mp3-Anbieter machte es mir an diesem Abend noch einfacher. Unter dem hochstapelnden Namen „Essentials“, können dort Musiksammlungen zu jeder denkbaren Musikrichtung und Geschmacksverirrung abgerufen werden. Unter der Überschrift „New Wave der Achtziger“ kaufte ich 17 große Hits. Erinnerung für 16,83 Euro. Einiges 15, 20 Jahre nicht mehr gehört. Schnell gebrannt und dann warten. Auf die nächste Autofahrt.

Mein Vordermann verliert eine Radkappe, ich weiche aus, Sirenen, monotones Maschinengestampfe, „Collapsing new people“ von Fad Gadget. Mein Gott, wie frisch das klingt, wie neu gehört und ich bleibe völlig unsentimental als noch mal Gray Numan zurück kehrt um zu fragen: „Are friends electric“. Ich habe keine Ahnung, die Freunde von damals sind verschwunden. Ich habe ein großes Herz, aber ich habe auch gelernt mich radikal von Lebenssituationen und Lebensumständen zu trennen. Sentimentalität bremst. Ich höre hier nur Musik.

Wir waren aber auch ein blöder Haufen. Empfindlich, oberflächlich, selbstverliebt, schlecht in der Schule, ganz vorne beim Saufen. Rotwein-Cola-Gemisch aus Benzinkanistern vor der Disko inhalieren, aber gleich am heulen, wenn der Kajalstift mal verrutscht. Anne Clark singt „Our darkness“. Die habe ich mal live gesehen. Mit dem dicken Patschulke, irgendwo im Pott. Den dicken Patschulke (Name geändert!) mochte ich, ein introvertiertes Walross in Schnabelschuhen, immer leichenblass. Ungeschminkt! Mein bester Freund damals. Und tanzen konnte der Patschulke! Ne, der hat nicht getanzt, der hat um sich getreten und zugeschlagen. „Our darkness“ war sein Lieblingslied und er hat mir dazu noch 1996, bei einem sentimentalen Erinnerungstreffen in einem überlebten Gruftschuppen im Schanzenviertel, beim Altherren-Pogo den linken Fußknöchel gebrochen. Das war damals das Ende meiner doch sehr anstrengenden Marathonläufer-Laufbahn. Da muss ich dem dicken Patschulke eigentlich dankbar sein.

Zu „Being boiled“ von Human League kann man sehr schön, sehr schnell Auto fahren. Ein unglaublich präziser Song, elegant, kühl. Kühl. Nicht kalt. „Diese ganzen Electroclash-Hasen können jetzt mal schön nachhause gehen!“, ruft Opa Paulsen vom Rücksitz. Und ich muss schon wieder Gas geben. Seit wann haben eigentlich auch die kleinsten Spielzeugautos die Berechtigung mit Lichthupe die Linke Fahrbahn zu besetzen. Selbst Transporter sind mit den Jahren zu rennstarken Boliden heran gewachsen, ich komm da nicht mehr mit. Ich fahre 180, mehr geht nicht. „We fade to grey“, Visage, eigentlich fliege ich bereits, der Transporter-Van hinter mir lichthupt im Rhythmus von „Safety dance“. Wie kommen denn bitte die Men without hats auf die Cd? Wie uncool! Macht aber großen Spaß das Ding, ich brülle den Text fehlerlos mit und fahr rechts rüber für Joy Division, der coolsten Band aller Zeiten. Von der ganzen Welt. Nicht mal zehntausend Coverversionen haben „Love will tear us apart“ töten können. Ha!

Ach Du meine Güte, „Tempel of Love“! Schnell wieder auf die Überholspur, kommt auch gerade hinten keiner. Vor drei oder vier Jahren war ich doch tatsächlich blöderweise auf einem Sisters of Mercy-Konzert. Ein Freund von mir studierte Lehramt, verkaufte also Nachts auf Konzerten Brezeln. Das war klasse, ich bin immer mit ("der trägt die Kasse") und wir konnten alle Konzert für umsonst sehen. Um der alten Zeiten willen sind wir dann auch Sisters of Mercy kucken gegangen. Wir waren schon früh in der Halle und mein Freund Alex hatte gerade seine Brezel-Beleuchtungslampe über seinen Korb an so einem komischen Kabel aufgehängt, da riss das blöde Ding, ein Blitz, Alex ging schreiend zu Boden und die gesamte „Große Freiheit“ lag in absoluter Dunkelheit. Schon nach zwanzig Minuten gab es wieder Strom und die ersten Fans der Sisters schlurften in die Halle. Ein Gruselkabinett aus hängen gebliebenen Grufties und Büroangestellten in Piratenblusen. Einer sah ganz hart aus, fette Sonnenbrille, wie Andrew Eldritch, dazu eine Collegejacke in Gold mit weißen Puffärmeln (!) und raspelkurzen, platinblonden Haaren. Wir haben sehr gelacht. Und das bei einer Körpergröße von geschätzten 1,50 Meter. Dreißig Brezeln später, Donner und Rauch auf der Bühne, irgendwer stolperte ans Schlagzeug, sonst nur noch ein Dat-Rekorder zu sehen. Dann kam das lustige sonnenbebrillte Männlein von vorhin, ging ans Mikro und sang:

With the fire from the fireworks up above me
With a gun for a lover and a shot for the pain at hand
You run for cover in the temple of love

Ich fahre von der Autobahn runter und ärgere mich, dass sich bei „Pretty in Pink“ von den Psychedelic Furs plötzlich Molly Ringwald neben mich setzt. Kino kann so grausam sein. Dabei habe ich den Song geliebt. Einmal saß ich mit dem dicken Patschulke am Kanal, wir haben schweigend eine sehr dicke Zigarette geraucht und auf dem Kassettenrekorder zwanzig Mal hintereinander „Pretty in Pink“ gehört. Spulen, rauchen, spulen, rauchen, spulen, rauchen. Irgendwann musste der dicke Patschulke dann heim zum Abendessen und Mutter Patschulke hat gesagt: „Na, Jungs, habta wieda gesoffen, ganz rote Glotschen habta, kommt ma rein, Du auch Paulsen, gibt Abendbrot, das baut auf!“ Mutter Patschulke fand ich wahnsinnig souverän. Beim Essen reichte mir der alte Patschulke plötzlich die Wurstplatte, so total zu schnell für mich und sagte: „ Na, Paulsen, möchtest Du noch Wurst?“. Ich hab Herrn Patschulke ganz lange schweigend durch üppig kolorierte Nebelwände angesehen, und dann mit fester Stimme geantwortet:
„Danke, gleichfalls.“

Als ich auf den Parkplatz vor dem Foto-Studio anhalte, fällt mir ein, dass ich irgendwo noch Fotos aus dieser Zeit besitze, in einem Fotoalbum. Fotografiert von einem Freund, der damals immer bunt gestreifte Pullover mit V-Ausschnitt an hatte, eine randlose Brille trug und in seiner Freizeit Modezeitschriften las. Er hörte die Bangles und Fun Boy Three. Wir mochten ihn trotzdem und er fotografierte ständig, „ich werde später Mode-Fotograf“, sagte er immer.
Wenn ich zuhause bin, geh ich mal auf den Dachboden und suche das Fotoalbum, denke ich und ziehe den Zündschlüssel ab. Herrlich, diese Ruhe.

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