Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 14. Juli 2008
Schönes Konzert…wenn nur das Publikum nicht wär!

Vorbildliche Alterung: Sex Pistols Konzertbesucher
(Foto:James Mollison)

Vergangene Woche war ich im Stadtpark auf einem Konzert von Bobby McFerrin. Gemeinsam mit der NDR Big Band wurde das Werk „Musical Migrations“ aufgeführt, eine 16 teilige Suite aus der Feder des Jazz Arrangeurs Fred Sturm, der diese musikalische Weltreise McFerrin persönlich auf den Leib geschrieben hat. McFerrin ist ein kolossales Stimmwunder, die NDR Big Band gehört zu den besten Big Bands Europas, ich liebe den satten Sound und es ging flott zur Sache.

Das hätte ein schöner Abend werden können, wäre da nicht das Publikum gewesen. Menschen in atmungsaktiver Funktionskleidung, den Fahrradhelm lässig an den Hosenbund (Khaki) geklippt. Viele fetzig, poppig, pfiffige, witzig geformte, kunterbunte Brillengestelle, die sich schon denkende Zehnjährige aufzusetzen weigern würden. Die Damen überwiegend mit raspelkurz geschorenem Haar, ein paar flotte lila Strähnchen ins Grau gefärbt, die Herrn starren sinnend in Plastikrotweinbecher, kauen kennerisch die Tetrabrühe. Worte wie „ungetrübter Kunstgenuss“ oder „…wie wir Jazzer sagen“ hallen durch den nur zur Hälfte gefüllten Stadtpark. Drohend stippen bunte Motiv-Regenschirme (Schietwetter!) in den leicht bewölkten Himmel.

Schon am Eingang Krawall. Zwei ansonsten sicher voll total lässige Alt68er flippen aus, weil sie die mitgebrachten Klappstühle nicht rein nehmen dürfen, extra hätten sie im Vorfeld mit Carsten Jahnke telefoniert. Erbost zeigt das Paar mit dem Finger auf einen nahenden Rollstuhlfahrer, aha, der dürfe also seinen Stuhl mit rein nehmen. Die Frau beugt sich hinab zum Rollstuhlfahrer und brüllt: „Da haben Sie aber Glück!“.

Während des Konzerts verfallen alle in eine kollektiv Kulturertragungsstarre, nur wenige tanzen aus der Reihe, wagen kaum bemerkbare Fußbewegungen, einige Ausgeflippte wiegen den Kopf für Sekunden sanft im Takt der Musik. Dafür wird jedes Musikersolo kennerisch minutenlang mit Applaus bedacht, die Bigband spielt derweil Warteschleifen. Keine Liebe zur Musik, kein Aufgehen in der Musik, eine anbiedernde, falsche, künstliche Choreographie der Begeisterung.

So was versaut mir den Abend, so ein Publikum. Ich verstehe die Furcht der Mittdreißiger vor der Berufsjugendlichen-Falle, ich verstehe auch den medialen Mahnruf, die Infantilisierung unserer Generation führe direkt in Verdummung und Verantwortunglosigkeit. Ich habe aber auch große Angst vor Funktionskleidung und Rollstuhlfahrerbashing. Mir ist jeder frischgebackene Abiturient auf dem Summerjam lieber, als mich noch einmal mit gammelnden Kultur-Zombies gemein zu machen.

Die Wechselwirkung zwischen Künstler und Publikum, gerade auch die modische Einflussnahme des Künstlers auf seine Konzertbesucher beleuchtet der Fotograf James Mollison, der jahrelang Konzertgänger fotografierte. Die beeindruckende Schau „Erste Reihe“ ist jetzt auf SZ-Magazin-online zu bestaunen:

James Mollison: Erste Reihe

http://www.jamesmollison.com/