Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
Dienstag, 19. Dezember 2006
Herr Paulsen geht aus: Morrissey (Color Line Arena, Hamburg)
herr paulsen
18:31h
Dieser essigsaure Geruch der Jugend, der beißende Gestank von Schweißfüssen, der dumpfe Muff von eingetrocknetem Sperma auf nummerierter Bettwäsche, lustlos und vor allem leise, dem Halbsteifen abgepresst, in der Dunkelheit der ewig wispernden Schlafsälen des christlichen Internats. Jeweils acht Jungen, zwangskaserniert im Hanni & Nanni-Albtraumland. Die Tage endlos: schwere Herzen, pubertäre Verwirrung, immer ein schlechtes Gewissen, selbst die Kämpfe ein lustloser Freizeitvertreib. Musik: The Smiths. Morrissey sang „The boy with the thorn in his side“ und im Zwielicht der nachmittäglichen Lernstube öffnet sich ein Pool, gefüllt mit warmem Selbstmitleid, mit Verständnis. Hineinspringen, untertauchen, schwimmen, wegschwimmen, entkommen. Wir waren nicht die Kinder die die Geschäfte der Welt übernehmen sollten, die Welt hatte uns hierher gebracht und würde uns auch nicht mehr abholen. „Last night I dreamt, that somebody loved me, no hope, but no harm, just another false alarm“ Morrissey wusste wie es uns geht und sang für uns, sang über uns, jede Zeile eine unumstößliche Wahrheit. Morriseys Texte, das waren die Nachrichten aus unserer Welt und nur wir hörten sie, sie gehörten uns. Schlechte Nachrichten zwar, aber immerhin die Bestätigung: es gibt uns. Später in meinem Leben ist es mir nie wirklich gelungen, den klebrigen Pubertätspathos von den abgegriffenen Covern meiner Smiths-Plattensammlung zu lösen, aber Morrissey schenkte, gottlob, immer mal wieder neue Alben. „Die Vergangenheit ist ein grandioser Ort“ hatte Morrissey sein Publikum beim ersten Deutschlandkonzert in Frankfurt zugerufen:„aber ich möchte da nicht leben.“ Und gestern Abend dann Hamburg. Großes Klassentreffen in der Color Line Arena. Von Drinnen dröhnt eine Vorband, die vom Großteil des Publikums ignoriert wird, wir warten hier auf Morrissey und das tun wir am Bierstand, wir lassen heute nur Morrissey an unsere Ohren. Es gibt auch viel zu kucken. Gut sehen sie aus, die traurigen Kinder von damals! Die Welt scheint sich definitiv ihrer erinnert zu haben, eine freundliche Heiterkeit liegt in der Luft, schöne Männer, noch schönere Frauen, man ist stilsicher gekleidet und entspannt. So wie Morrissey selbst, der charmant den Vorsteher einer wirklich unglaublich brillanten Band gibt. Vom Klavier her tönt Anfangs die Deutsche Nationalhymne, in kräftigem Stakkato marschmäßig in die Tasten gehauen, kleiner Lacher, dann kommt er schon, schwenkt die silbergraue Tolle, rüttelt noch mal am Kettchen, das ins weit geöffnete Hemd hängt, und singt. Singt! „Panic“. Aber wie! Kraftvoll und sicher, wo ich ein Altersbröckeln vermutet hatte, frisch und klar fliegt seine Stimme, Runde um Runde, über unsere Köpfe und in sie hinein. Die Freude über das abendliche Zusammentreffen ist beidseitig, hier wird bedingungslos geliebt! Morrissey klatscht beinahe ebenso oft Beifall wie sein Publikum. Pier Pasolini ist der einzige im Saal, der den ganzen Abend betrübte Mine zum feinen Spiel macht, ernsthaft blickt er zwei Stunden von der Bühnenleinwand ins Rund, in dem das Konzert hingebungsvoll, gemeinsam zelebriert wird. Jedem Liedanfang, folgt ein seliger Seufzer kollektiven Erinnerns, es wird mitgesungen, es wird geweint, es wird nicht gespart an großen Gesten, ebenfalls wieder beiderseits der Bühne. Orchestrales Aufbrausen, erstaunlich rockige Gitarrenwände und weil es so schön ist, jubelt über allem noch eine majestätische Posaune, große Becken werden zusammen geschlagen, die ganz große Trommel muss dringend auch noch gehauen werden. Genug ist nicht genug. Und immer wieder Hände in die Höhe, Arme ausbreiten, umziehen, kurz mal ausziehen und wieder umziehen. Und diese weiche, warme Musik, die den Pathos nicht scheut, die nichts dagegen hat, Pop zu sein, die zickig ist und divenhaft und wunderschön. Dieser Abend, ein großes Glück und groß ist der Wunsch, Danke zu sagen. Steven Patrick Morrissey tut es: "Thank you for all you have given. And to those who don't like me: I will grow on you."
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