Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Dienstag, 12. Dezember 2006
"Endlich! Die Wahrheit!" - was die alte, neue Tempo-Redaktion uns vielleicht sagen wollte.

Ich hab ja Zeit. Sogar Zeit für Tempo. Momentan sitze ich in einer winzigen, in Stein geschlagenen Gastarbeiterwohnung in den katalanischen Bergen (Meerblick!), abends jedoch schwärzt sich das Panorama und ich könnte die mitgeschleppten Bücher lesen. Stattdessen lese ich den mitgeschleppten, neuen Tempo-Katalog. Immer stärker wird dabei dieses Gefühl, dass sich beim Betrachten totgefahrener Tiere am Straßenrand einstellt. Ein innerlicher Ekel. Man muss aber trotzdem irgendwie hinsehen. Ich müsste ja nicht hinsehen, ich könnte diese knapp 400 Seiten lautstarker Langeweile dem Altpapier überlassen. Die mir eigene Sorgfaltspflicht hindert mich aber daran. Ich schreibe nicht über ein Magazin, ohne wirklich alles gelesen zu haben. Vielleicht übersehe ich den Lichtblick, vielleicht verpasse ich die Gesamt-Idee dahinter.

Gerade habe ich es geschafft. Ich bin durch. Und muss der Redaktion um Markus Peichl ganz herzlich gratulieren. Eindrucksvoll gelang der Coup aber wirklich jeden Mist, jeden Fehlgriff, jede Entgleisung, jede Mode der aktuellen Deutschen Unterhaltungszeitschriftenlandschaft zu kopieren und auch zu drucken. Ich meine: Geschwätzigkeit, Langeweile, Beliebigkeit, Ignoranz. Ich meine: selbstverliebtes Rummeinen, ich meine populistisches Geschwafel mit umwerfend brummendem Selbstvertrauen. Ich meine: Seiten zu füllen ohne nennenswerte Inhalte zu liefern. Mäkeln, draufhauen, Bange machen. Nachmachen statt anders sein. Dranhängen, statt Vormachen. Wer glaubte, die alte, neue Tempo-Redaktion sei angetreten, nochmals Impulse zu geben, Zeichen zu setzen, der sei jetzt nicht enttäuscht, sie haben den oben umrissenen Zeitschriftenstil erfunden und salonfähig gemacht, dieses „immer alles ganz lustig, ganz doof finden“. Das war neu, das war erfrischend, es sei der Mannschaft ihre kurze Auferstehung in Grabsteinform gegönnt.

Ich gehe nicht auf die einzelnen Artikel ein, das haben andere Menschen an anderen Stellen ausführlich und wunderbar gemacht (ich empfehle die anhängende Linkliste). Was mich wundert: die Lektüre der Zeitschrift erschütterte mich ernsthaft. Niemals zuvor sah ich so geballt alles was ich am heutigen Zeitschriftenjournalismus verachte und niemals war der Wunsch dringlicher, über Alternativen nachzudenken. Wie wäre es denn, wenn Zeitschriften wieder eine Seele hätten und eine Überzeugung, wenn Zeitschriften ihren Lesern nicht nur das Ungemach der Welt aufzeichneten sondern auch Lösungswege anböten? Wenn Zeitschriften wieder sexy wären, ohne nackt zu sein? Verführer, Neugierigmacher, Ermutiger. Und nicht nur marktschreien und wiederkäuen, sondern: auch mal wieder denken mit der Tastatur und sich der Sprache erinnern. Und: keine Angst vor Gefühlen! Ja, gut, letzteres ist jetzt wirklich zuviel verlangt.

Das zu leisten, war nicht Aufgabe der alten, neuen Tempo-Redaktion. Vielleicht aber ist in den Redaktionsräumen etwas wirklich Großes passiert. Vielleicht war beabsichtigt, was ich beim Lesen dachte: dass dieses Heft, willentlich und mit den Mitteln von vor zehn Jahren, den Ist-Zustand der Deutschen Lifestyle-Zeitschriftenlandschaft aufzeigen sollte. Dann wäre diese Tempo-Ausgabe tatsächlich der ganz große Wurf.

lesenswert Links zum Thema:

Stefan im Zeitschriftenblog:
www.zeitschriftenblog.de

Reinhard Mohr im:
Spiegel

Umfassende Tempo-Retrospektive in Popkulturjunkies neuem Blog:
www.retromedia.de

Bettina Röhl über die Tempo-Jahre, mit vielen schönen Fotos:
RöhlBlog

Don Dahlmann:
hier