Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Mittwoch, 1. November 2006
Heimarbeit am Reformationstag


„Kinder, ihr lieben Kinder, ich bin sehr, sehr krank."

Manchmal ist mir der Gott der Arbeit gnädig und lässt mich mein Tagwerk zuhause erledigen. Schön ist das, der Kaffee ist sehr gut und ich kenne mich in den Räumlichkeiten aus. Emsig schreibe ich Rezepte, mache Onlinebanking, bereite Steuerunterlagen vor. Eine Ruhe ist das und ich bekomme nichts mit von der Welt da draußen und die Zeit vergeht und irgendwann ist Feierabend. Es klingelt an der Tür. Ein später Postbote mit einem Paket für die liebe Frau Burmeister von nebenan. Frau Burmeister nimmt sonst immer Pakete für uns an und ich freue mich, dass ich mich einmal revanchieren kann. Ich nehme wieder vor dem Computer platz, draußen dunkelt es und ich lese gemütlich meine Blogroll. Da es bimmelt wieder! Das muss Frau Burmeister sein. Das Paket in der Hand öffne ich die Wohnungstür. „Süßes oder Saures?“. Vor der Tür stehen drei blutverschmierte türkische Buben mit fragenden Gesichtern.
„Äh, was?“
„Süßes oder Saures, Aldder!“
„Äh, nö.“
„Was su drinken?“
„Äh. Nö.“
„Sigaredde?“
Ich entschuldige mich höflich und schließe die Tür. Scheiße. Halloween. Sofort lösche ich alle Lichter in der Wohnung, werfe mich zu Boden, robbe zurück ins Büro und schließe die Tür. Gepolter im Treppenhaus. Sie ziehen vorbei. Der Lichttrick ist prima. Ständig bimmelt die Hautürglocke, irgendwer macht immer auf, aber meine Wohnung mit den halbdursichtigen Fenstern in der Wohnungstür liegt im Dunkel, ich werde verschont. Irgendwann dann der Hunger. Gleich kommt auch die Liebste heim, ich sollte jetzt was kochen. Und Fernsehen würde ich auch gerne, ich sehe um diese Zeit immer "Das perfekte Dinner" auf Vox. Licht an, es bimmelt. Ich ignoriere die Glocke, sollte das Frau Burmeister sein, tut es mir leid, Paket kommt morgen. Es hämmert an der Tür. Das ist nicht Frau Burmeister. Ich öffne. Vor mir stehen zwei türkische Halbwüchsige. Einer hat eine Axt im Kopf, auch der andere müsste dringend einen Arzt aufsuchen.
„Süß oder salzig!“
Ich muss lachen.
„Nö, nur Tamarindenpaste, getrocknete Steinpilze und Wasabi.“
„Ach, so.“, sagt der mit der Axt, „ja dann, schuldigung.“

Ich rühre im Risotto und lausche. Schreie und Gelächter auf der Strasse, im Treppenhaus Stiefelgetrampel, ich lösche wieder alles Licht und rühre im Dunkle weiter. Taste mich ins Wohnzimmer, schalte den Fernseher an. Es bimmelt. Zwei Minuten Sturmglocken. Ich gebe auf. Ich öffne. Vor mir stehen veir Leichen aus dem Film "Scream". Leichenzwerge. Die Zwerge atmen schwer hinter ihren Masken. Text vergessen. Stehen schweigend auf meiner Fußmatte, atmen und riechen säuerlich, nach Schweiß und Herbstnacht. So kommen wir nicht weiter. Plötzlich fällt mir auf, ich stehe hier in Freizeithose und grauem Schlabber-Pulli, mein Haar ist zerzaust vom Steuerunterlagen sortieren und da kommt mir die Idee. Ich werfe mich ruckartig nach vorn, Huste grausam, Spucke fliegt, ich krümme mich und keuche: „Kinder, ihr lieben Kinder, ich bin sehr krank. Sehr, sehr krank, ich brauche Ruhe!“ Die Zwerge weichen. „Das tut uns leid, entschuldigen sie bitte.“, sagt ein Zwerg, „Gute Besserung!" ein anderer. Ich schließe die Tür. Ich bin ein Schwein. Ich lüge Kinder an. Ich finde aber, das ist Notwehr.

Im Fernsehen laufen Nachrichten. Ein süßes, kernseifenfrisches Mädchen mit roten Apfelbäckchen steht vor der Reformationskirche in Wittenberg und lächelt in die Kamera: „Die evangelische Kirche ist mein halbes Leben, mit meinen Freunden hier sein! Der Reformationstag ist die beste Party des Jahres und Luther war echt cool!“ Es klingelt an der Tür. Für einen kurzen Moment wünsche ich mir ein kleines bisschen in Sachse–Anhalt zu leben, strubbel mir noch einmal die Haare zu Berge und öffne gramgebeugt. Frau Burmeister ist besorgt: „Oh, Herr Paulsen, geht’s ihnen nicht gut?“