Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Sonntag, 22. Oktober 2006
Wir nennen es Arbeit. Live.

57, schreibt mir die charmante Frau mit dem ungarischen Zungenschlag am Eingang auf meinen Handballen. Auch nach mir zückt sie noch etliche Male den Filzstift, das Elektrohaus füllt sich mit Neugierigen. Holm Friebe (Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur, Berlin) und Sascha Lobo (verantwortlicher Redakteur des Riesenmaschine-Blogs) sind an diesem Freitagabend in Hamburg zu Gast und stellen ihr Buch „Wir nennen es Arbeit“ vor. Von der „digitalen Bohème“ und „intelligentem Leben jenseits der Festanstellung“ erzählt das Werk und beim ersten Bier stelle ich mir die Frage, ob sie denn auch hier ist, die digitale Bohème, die würde ich gerne mal sehen, diese digitale Bohème, die sich ja gerne der Welt entzieht und nur als Folge von Nullen und Einsen in Erscheinung tritt. Die Menschen im Elektrohaus sehen unverdächtig aus. Im sympathischen Rund ein bisschen alternativer Chic, ein paar Anzugträger, alle tragen Turnschuhe. Holm Friebe kreuzt meinen Weg, ebenso wie Sascha Lobo, kenne ich ihn seit Jahren aus den Hochzeiten des Höflichen Paparazzi Forums. Ich schnappe Holms Hand und gratuliere Aufrichtig zum Buch, das ich noch nicht gelesen habe, ich gratuliere aber trotzdem schon mal, weil ich weiß wie schwer es ist, ein Buch auf den Weg zu bringen. „Herzlichen Glückwunsch“, sage ich. „Zu was denn?“, grantelt Friebe zurück. „Zum Buch.“, sage ich. „Das kennst Du doch noch gar nicht!“, blafft der gut aussehende Muffelkopf zurück und entschwindet. So ist er schon immer gewesen, der Herr Friebe, gut aussehend und schlecht gelaunt, ich mag es wenn eine Ordnung ist in meiner Welt, ich winke ihm freundlich hinterher.

Er hat ja auch recht, ich kenne das Buch nicht, denn auch dieses Buch muss sich, wie alle anderen Bücher dieser Erde, auf meinem Nachttisch in der Warteschlange hinten anstellen und momentan lese ich ein sensationell gutes Buch, mein Buch des Jahres, ein Buch dass für mich das Ende des Schreibens bedeutet aus Demut vor soviel Genie, oder, wie es ein befreundeter Verleger neulich ausdrückte: „ es macht keinen Sinn mehr zu Schreiben, wenn man nicht wenigstens versucht, ein bisschen wie Saša Stanišic zu schreiben“. Was er meint ist die Fülle wuchtiger Bilder, die Liebe zum Detail und einen puren Sprachfluss der sich alle Zaubertricks und Kunststückchen der Literatur verbietet, ohne Effekthascherei eine große Geschichte erzählt.

„Wie der Soldat das Grammofon repariert“ heißt dieses Wunderwerk, welches im gesamtdeutschen Feuilleton gepriesen wurde, das spielt aber keine Rolle, es ist tatsächlich meisterhaft.

Lobo kommt vorbei und ich muss ihn einfach mal kurz drücken, ich mag Lobo, ich mag seine Arbeit, seine Gedanken, seinen Aktionismus. Lobo, der Mann der sich immer wieder neu erfindet, im Moment mit rot gefärbter Irokesen-Bürste und Dschingis Khan-Bart. Und dann geht es los, Friebe gibt den Stuckrad-Barre, fläzt sich fließend hinter das Mikrophon und erklärt erstmal den Bohème-Begriff. Balzac. Brecht. Bourdieu. Schon nach kurzer Zeit überfällt mich jenes Gefühl, das seinerzeit für einen raschen Schulausstieg sorgte, diese bleierne Müdigkeit gepaart mit dem kompletten Verlust jeglicher Aufmerksamkeitsspanne. Gut, dass ich nicht studiert habe, so stelle ich mir Studieren vor: wegnicken im bleichen Schein einer Powerpointpräsentation. Wenigstens gib es Bier. Das Publikum scheint Vortragsgeübter, bleibt wach und folgt den Ausführungen der beiden Referenten mit Interesse. Als die Theorie überwunden ist, bin auch ich wieder zurück aus meinen Gedanken, der Vortrag wird launiger, die Thesen, Ideen und Beobachtungen zur „web-zweinull Generation“ sind treffend, präzise und scheinen gut recherchiert. Es macht sich Vorfreude breit, auf dieses Buch, welches auf jeden Fall schon mal das Fell jener Freiberufler streichelt, die große Teile ihrer Wachzeit im Netz verbringen und sich in düsteren Stunden schon mal Fragen, wo das denn bitteschön noch hinführen soll. Große Freude bringt auch die Zuschauerfragerunde, die zeigt, dass längst nicht alle im Netz angekommen sind und die Zahl der kritischen Bedenkenträger groß ist. Wie Sascha Lobo, schlagfertig schwankend zwischen abbürsten und erläutern, den Zweiflern die digitale Welt erklärt, das ist höchst unterhaltsam, charmant und gekonnt.

Digitale Bohème hin oder her, wir haben Hunger und verlassen nach dem Vortrag überstürzt die Veranstaltung, im „Café Paris“ brennt noch Licht, Tatar wird serviert und scharfe Merguez-Würste. Korsischer Weißwein und kaltes Bier verwirbeln das Leben, fünf internetbesessene Menschen machen Krach für zehn, fallen einander ins Wort bis die Wörter zerfallen und als um halb Zwei in der Nacht gesungen wird, und zwar Udo Jürgens, da denke ich, wenn sie das ist, die digitale Bohème, dann will ich gerne dabei sein.

..............................................ritsch.

Links zum Thema:

Wir nennen es Arbeit. Das Buch:
http://wirnennenesarbeit.de/

Elektrohaus:
http://www.elektrohaus.net/

ZIA:
http://www.zentrale-intelligenz-agentur.de/

Riesenmaschine-Blog:
http://riesenmaschine.de/

Saša Stanišic:
http://www.kuenstlicht.de/
http://www.audibleblog.de/stanisic/

Höfliche Paparazzi:
http://www.hoeflichepaparazzi.de/forum/

Café Paris:
http://www.cafeparis.net/