Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
Montag, 11. September 2006
Septemberhimmel
herr paulsen
10:29h
Am Flughafen kaufe ich mir Zeitschriften und Zeitungen die den 11. September thematisieren. Ich kaufe mir Sonderausgaben mit beigelegten DVDs, ich kaufe mir Magazine die unveröffentlichte Fotos versprechen. Den Jahrestag begehen. Im Flugzeug lese ich den neuen „Feinschmecker“, esse das gereichte „Graupenrisotto“, dann schlafe ich ein. Letzten Samstag habe ich bei McDonalds die Hamburger Morgenpost gelesen, darin ein Bericht von einem Mann, der seine Frau in den Türmen verloren hat. Nicht nur verloren, sie war weg, einfach so, lange Zeit. Viel später haben sie in den Trümmern einen Knochen gefunden, der zweifelsfrei seiner Frau zu zuordnen war. Der Mann hat viel getrunken bis zum Zeitpunkt des Fundes: „Morgens, mittags, abends.“ Dann ist er ins Internet, hat seine Frau gesucht, jahrelang, dann im Internet ein Bild gefunden, nach Jahren. Seine Frau ist gesprungen. Beige Hose, schwarzer Pulli, ihr Haar. Auf dem Foto bildet ihr Körper ein V, den Rücken zur Strasse gekehrt. Den nebenstehenden Artikel über einen Feuerwehrmann, der half die „Springer“ am nächsten Tag aus den Bäumen zu holen, den habe ich nicht mehr gelesen, meine Augen haben getränt, plötzlich, im McDonalds an der Hoheluftchaussee am Samstagmittag. Am Flughafen Barcelona verstöre ich mutwillig einen Menschen, nach all den Jahren. Sie erkennt mich am Kofferband, freut sich offensichtlich mich zu sehen und ich erkenne sie auch sofort, tue aber so, als könne ich mich nicht erinnern, lasse ihre Herzlichkeit ins Leere laufen und sage: „äh, hilf mir, Du bist...?“ Vor vielen Jahren, in einem anderen Leben mit anderen Schwerpunkten, hatte sie mich einmal sehr verärgert, sie hat sich längst entschuldigt, aber ich bin ein Elefant, Madame, und ich hätte es nicht planen können, es passierte einfach, die Begegnung und meine Entscheidung so zu reagieren. Wundernd, was für ein kalter, nachtragender Ekel ich sein kann, was für ein kalter, nachtragender Ekel ich bin, trete ich aus dem Flughafengebäude und zünde mir eine Zigarette an. Sie haben das „Mango“-Werbeplakat auf der anderen Straßenseite ausgewechselt. Die Frau mit den unglaublich schönen Füßen und den unglaublich schönen Schuhen ist verschwunden. Gegenüber knöpft sich ein dunkelhaariges Model ihre Bluse auf und schaut dabei überrascht zu mir herüber. Dieser Moment: die Füße schon im nassen Sand, die erste Welle umarmt die Füße, nur kurz, zieht sich zurück und ich weiß, das Wasser ist perfekt. Ich laufe hinein, ein paar Meter, springe, es wird ein Fisch aus mir, ein steifer Fisch schießt durchs Wasser, den Körper gerade ausgestreckt, kein Widerstand, fliegen, ein paar Meter, bis die Luft ausgeht. Auftauchen aus der Stille, sofort der geschwätzige Strand und dieses Gefühl, dass ich hier schon oft hatte, Undankbarkeit. Vorher im Supermarkt, dankbar, dass überhaupt ein Supermarkt offen ist am Sonntag und trotzdem keine Petersilie. Danach nach Sitges, wegen der Petersilie. Morgen brauche ich Petersilie, alle Rezepte sind mit Petersilie, wir können ohne Petersilie nicht arbeiten, Morgen sowieso nicht, denn da ist Feiertag hier. In Sitges haben alle Geschäfte geöffnet, nur nicht die Supermärkte, selbst der Gemüsehändler des Teufels in der Calle Jesus hat geschlossen und schaut wahrscheinlich den Papstbesuch. Wie sich das Land, wie sich die Stadt verändert hat! Die Konturen sind weicher, das Grelle ist weg. Der marktschreierische Sommer ist vorbei und hat noch ein bisschen Wärme da gelassen. Unweit der Kirche entdecke ich ein Steakhouse, direkt am Wasser. Ich bin noch nie weiter als zur Kirche gegangen, schön ist es hier. Am Strand spielt ein Rasta mit seinem Hund. Der Abendhimmel ist so blau, man könnte diesen Himmel nicht malen, man kann diesen Himmel nicht fotografieren. Ein einzigartig blauer Himmel zum selber merken. Schön ist das, eine Herausforderung. Ich bestelle ein Steak und Beilagen. Katalonien und ich, wir müssen uns keine kulinarischen Geschichten mehr erzählen, es gilt einen Frieden zu bewahren, Erwartungen und Enttäuschungen müssen sich nicht mehr balgen, wo doch sogar der Himmel sich weich und unfassbar gemacht hat. Am Tisch vor mir sitzt eine junge Frau. Sie ist unglaublich dick und allein. Ihr Dicksein hat sie selbstbewußt unterstrichen, ihre Kleidung ist ein Ausrufezeichen. Der Busen der Blonden wippt haltlos in der ausladenden Bluse, rot gebrannte Beine quellen aus einem kurzen Schlauchrock. Ihr rot geschminkter Mund ist klein, schmal und verkniffen, die Augen winzig. Engländerin, denke ich und erschrecke nicht zum ersten Mal am heutigen Tag über mich, aber weil ich gerade sowieso unmöglich drauf bin, bin ich zudem gespannt, was sie bestellt, die fettleibige Engländerin. Cola kommt und eine Wurst mit Salatbeilage. Die Wurst lässt sie zurückgehen, die ist kalt, sagt sie auf Englisch. Die Wurst kommt mikrowellig wieder, sie streichelt die Wurst kurz mit ihrem dicken Daumen, nickt und isst. Sie achtet auf ihre Linie, denke ich, kleine Bratwurst mit Salat, sie gönnt sich was, denke ich. Dann kommt ihr Steak. Ribeye, 500 g, mit Backkartoffel und Sauerrahm. Neidisch sehe ich zu ihr rüber. Auf meinem Teller dieser dünne Lappen, ein Rumpsteak, 200 g, das kriegt kaum ein Koch medium, war doch irgendwie klar. Ist auch kalt. Ich esse klaglos, sehe in den Himmel. Da dreht ein Paraglider seine Runden, auf dem Rücken eine Art Ventilator, Karlsson vom Dach. Er wedelt mit den Beinen und schreit euphorisch, umkreist Kirche und Restaurant in hoher Luft, knatternd dreht er seine Runden über dem stillen Meer. Er wird niemals abstürzen. Er fliegt. Petersilie, denke ich.
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