Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 19. Juni 2006
Herr Paulsen geht aus: Sónar Festival, Closing Night (Die 25 Stunden von Barcelona)


Es ist Mitternacht als ich das Sónar-Festival erreiche. Nicht dass ich spät dran wäre, nein, die fangen hier jetzt erst richtig an. Hinter mir liegt ein harter Arbeitstag und ein schöner Abend in Barcelona. Seit 16 Stunden bin ich auf den Beinen und zum ersten Mal überkommen mich leise Zweifel ob das denn alles noch sein muss, gepaart mit einer aufkommenden, redlich verdienten, Müdigkeit des Werktätigen. Eine schwachsinnige Idee, beschließe ich, bin aber der Meinung, wer arbeiten kann, der kann auch feiern, also los.
Entlang der nachtgrauen Messehallen in denen das Festival statt findet, ziehen sich über einen Kilometer, unzählige von Glühbirnen-Lichterketten illuminierte Marktstände an denen gegrillt wird. Riesige Fleischberge, Speckstreifen, Burger, Würste aller Art, Fleischspieße. Dazwischen fliegende Händler mit Getränken, T-Shirts, Drogen und immer wieder werden Karten angeboten, der Abend hat sich schlecht verkauft, im Internet prangerten viele den zu hohen Eintrittspreis von 40 Euro an. Trotzdem großes Andrang, Tausende stehen vor dem Haupteingang Schlange, kein Gedränge, kein Geschiebe, gute Laune unterm sternenklaren Sommerhimmel.

Drinnen ist es eisschrankkalt klimatisiert und laut. Von der Eingangshalle geht es links und rechts ab in die Konzerthallen, dazwischen Open-Air-Zonen, hier legen DJs auf. Bekanntes Geboller aus der größten der zwei Hallen, das Konzert von GOLDFRAPP hat schon begonnen.

Ich betrete einen gigantischen Hangar, locker hätten hier ein-zwei Jumbo-Jets platz, es ist ein Atem beraubender Anblick. Ganz, ganz vorne, winzig klein, Alison Goldfrapp auf der Bühne. Entlang der Halle sorgen aber insgesamt acht Großbildleinwände für beste Sicht. Man könnte aber auch einfach nach vorne laufen, direkt vor die Bühne, nicht mal 600 Leute verlieren sich im Saal. Übertragen auf einen normalen Club ist das so, als würden Goldfrapp vor 6 Leuten spielen. Das Konzert ist genau wie das in Hamburg aufgebaut und wieder einmal werde ich den Eindruck nicht los, dass Frau Goldfrapp eigentlich keine Lust hat. Als würde sie, Nacht für Nacht, von irgendwem, gegen ihren Willen auf die Bühne geschubst werden um die ewig gleichen Lieder zu singen, gefangen in den vorprogrammierten Soundloops, die Begleitband nur Staffage. Und jede Nacht vor die Windmaschine, die ihrem Haar Volumen geben soll, aber nur fröstelnde Gänsehaut schafft. Der Höhepunkt des Konzerts ist natürlich „Ooh la la“, für mich eine der besten Popnummern der letzten zehn Jahre, kein Wunder, ist ja auch bei Marc Bolan geklaut.
http://www.goldfrapp.co.uk/

Ich geh dann mal. In die „kleinere“, wesentlich gemütlicherer Halle. Da stehen AFRA auf der Bühne.

Die kommen aus Japan und machen Techno, Trance, Electro, Hip Hop und Drum&Bass. Mit dem Mund. Kein Witz. Drei Japaner, drei Mikrofone, dass reicht für wirklich beeindruckende Soundwände. Erstmal Tränen gelacht, dann getanzt. „Afra-the incredible Beat Box Band“ geben eine brilliante Vorstellung, haarscharf-elegant am Comedy-Act vorbei. Dafür hat sich das Kommen bereits gelohnt.
http://www.oddjob.jp/

In der großen Halle tobt DJ ANGEL MOLINA, der Mann ist in Barcelona eine feste Größe.

Nicht dass ich mich in der Dance-Szene von Barcelona auskennen würde, aber es mag kein Schritt durch diese Stadt gelingen, ohne an einem Plakat vorbeizukommen, auf dem bekannt gegeben wird, wo der Herr Molina heute Abend mal wieder einen zum Besten gibt. Leider auch hier, der „Ibiza -Großraumdisco“-Technodreck ist von stumpfester Art, wer hört eigentlich noch so was? Ungefähr 8000 Leute, die Halle ist jetzt zur Hälfte gefüllt. Alle drehen komplett durch. Zeit, mich mal ein bisschen umzusehen.

Es glitzert und funkelt weihnachtlicht in der Betonwelt. Überall hängen diese Lämpchen-Sterne, die wir aus adventlich geschmückten Fußgängerzonen kennen. Auch Weihnachtsmänner auf Renntierschlitten funzeln aus tausend bunten Leuchtdioden zusammen gesetzt, von den Hallendecken. „Kunst!“, denke ich ganz kurz, verwerfe den Gedanken aber sofort wieder. In einem der Innenhöfe ist ein Autoscooter aufgebaut, lachend karambolieren schöne, junge Menschen zu entspannten Electro-Klängen aus Walfischbäuchen. Das ist doch mal was! Ein weiteres Highlight des Festivals ist allem Anschein nach die dröhnende Diskobutze eines weltweit operierenden Telefonanbieters. Dort darf man, so man will, auf einem bunten Lichtertanzboden (as seen bei Kylie Minogue und Modern Talking) herumtollen, das machen sogar einige Menschen, ich versteh das nicht, aber ich versteh ja vieles nicht.

Seht gut verstehe ich dagegen die DIGABLE PLANETS.

Geschmeidigster Hip Hop, oldschool, jazz-funky, full of soul. Wunderbar mir welcher Leichtigkeit sich die achtköpfige Band jazzy durch die Musikgeschichte spielt. Seit 1993 gibt es diese Band und ich entdecke die erst jetzt, das ist ja schon peinlich. Die würde ich gerne mal in einem Club wieder sehen, erstmal kauf ich mir aber alle Platten.
http://212.85.103.226/digable-planets/

In der großen Halle kniddeln sich die beiden DJs von THE MFA aus England wolkig-weichen Electro aus dem Vinyl, es klingt alles sehr nett und lieblich, ein bisschen nach Röyksoop. Klänge die die Ohrläppchen streicheln, herrjeh, meins ist es nicht, aber es ist immer wieder großartig DJs bei der Arbeit zu zusehen, hochkonzentriert wird da geschraubt und ich bestaune die Operation sowie die traumhaften Visuals der deutschen Graphik-Kreativen PFADFINDEREI per Großbildleinwand bis zur Genickstarre.
http://www.themfa.com/
http://www.pfadfinderei.com/

Die wahren Meister des Auflegens sollte ich aber erst noch kennen lernen. Die Party des Jahres, der Höhepunkt des Festivals, begnadetet Götter an den Wheels of steel, ich verneige mich tief für: DIPLO vs. A-TRAK.

Den Sónar-Machern ist garnicht genug zu Danken für die Buchung dieser begnadeten DJs (A-TRAK ist übrigens der Tour DJ von Kanye West). So etwas habe zumindest ich noch nicht erlebt. 2 DJs, 4 Turntables, 2 Digital-Turntables und 2 Macs ergeben den unglaublichsten Live-MashUp ever. Die Beastie Boys rappen über Kraftwerks „Boing Bumm Tschak“, The Cure wälzen sich mit Ludacris über die Bühne, Missy Elliot rockt The Clash. Das alles perfekt gemischt, geschmeidigste Übergänge und nicht eine der Combinations wird länger als eine Minute gespielt, das Publikum fällt von einer Verzückung in die nächste, Jubelschreie der Erkenntnis aus dem schweißnassen Tanzkessel. Die zwei spackigen Jungs hinter den Turntables (schiefe Truckermütze, dicke Hornbrille) freut es sichtlich und bei jedem Wechsel drücken sie ein Knöpfchen und entschuldigen sich so via Großbildleinwand: „Entschuldigen Sie den folgenden, längeren Loop während wir die Platten wechseln“. Understatement galore. Danke, das wars!

Ich könnte jetzt eigentlich prima ins Bett, besser wir es nicht und ich bin total müde. Es ist vier Uhr. Leider fährt der erste Zug in mein Dorf erst um sechs Uhr. Drüben wütet MISS KITTIN.

Seit zwei Stunden gibt sie zu belanglosem Technobrei die sterbende Björk, kiekst wahllos Songtexte von anderen Künstlern (Depeche Modes Photographic muss u.a. dran glauben) über selbstgemischte, nicht enden wollende, monotone Loops. Wo die herkommen ist unklar, obwohl sich manchmal sogar einer der beiden Plattenteller tatsächlich dreht und Miss Kittin sich wahlweise dramatisch den Kopfhörer ans Ohr presst oder hektisch in ihrer Plattenkiste wühlt. Dabei stürzt sie unglaublich viel Bier in sich hinein. Auf ihrem linken Arm ist „Inhale“ tätowiert, auf dem Rechten „Wahle“. Genau.
http://www.misskittin.com/

Gott sei dank, es brennt auch in meiner Lieblingshalle noch Licht, ich höre: es spielen die Beastie Boys! Ne, war nur Spaß. Aber machen Sie doch zuhause mal folgendes Experiment. Legen Sie eine UGLY DUCKLING Platte auf und schließen Sie die Augen. Na? Sag ich doch! Dick rollen die Bässe, warmherzig wummert die Hammond-Orgel, DJ Einstein gibt den Funkdoctor mit Scratchauftrag, die Stimmen der Rapper überschlagen sich hochtönig. Klasse. Lieber gut geklaut als selbst gestammelt. Ich bin nochmal wach, die Party läuft wieder! Leider schon nach einer Stunde verabschieden sich Ugly Duckling. Mit „Ali Baba an the fourty thieves“ von den Beastie Boys.
http://www.uglyduckling.us/index2.html

5:00 Uhr. So und ich geh jetzt. Nur wohin? Gekommen bin ich mit einem Taxi aus der Innenstadt, jetzt muss ich zu einer U-Bahnstation, die laut Karte der Sónar-Organisatoren ganz in der Nähe sein soll. Umfragen unter den Anwesenden ergeben, je nach Alkoholpegel, vermutete Laufzeiten zwischen 25-45 Minuten, bis zum Bahnhof. Warum man eine Messe baut und dann die U-Bahn vergisst, bleibt das Geheimnis der Stadtväter von Barcelona, geheimnisvoll sind auch die Wegbeschreibungen die ich erhalte:“Links, links, rechts, geradeaus, links, recht, rechts, links, bin mir aber nicht ganz sicher.“
Die Messe steht also im verkehrstechnischen Niemandsland. Zu Hunderten stehen wir vor den Hallen, die Sónar-Busse sind alle überfüllt, die wenigen Taxifahrer fahren, wie Freier auf dem Strassenstrich, im Schrittempo die Massen ab und laden sich nur die schönsten Mädchen ein. Irgendwann laufen alle los, durch schlafende Wohngebiete auf der Suche nach Bushaltestellen, ich laufe mit. Nach einer Dreiviertelstunde kommt ein Bus, es ist inzwischen taghell. Der Bus fährt in die Innenstadt, von dort fahre ich mit der U-Bahn zu dem Bahnhof an dem Züge in mein kleines Dorf fahren. Dreißig Minuten warte ich auf den Zug, steige ein und ermahne mich, um Himmels Willen nicht einzuschlafen. Das klappt auch ganz gut und so erlebe ich im Wachzustand, wie der Zug mit Tempo 120 durch den Bahnhof meines Dörfchens rauscht, einmal hupend, wie zum Hohn. Es halten nämlich nicht alle Züge in meinem Dörfchen. Dieser hier zum Beispiel. Sitges schläft noch als ich um 8:00 Uhr schlafsüchtig aus dem Zug taummle. Wenigstens die Bahnhofsbar ist aber schon offen, das ist gut, der nächste Zug in Richtung Bett geht nämlich erst in 45 Minuten.

Ich bestelle Cortado und zwinge mich ein Hörnchen zu essen. Die Bedienung sieht mich angewidert an. Walk a mile in my shoes, girl. Ich rühre im Kaffee und denke über die vergangene Nacht nach. Das waren wunderbare Konzerte, einige Entdeckungen, sehr, sehr viel Oldschool-Kram, viel Funk, eine Menge Blümchen-Hip-Hop (Halt! Keine Gewalt!) und insgesamt eigentlich eine erstaunliche Auswahl für ein Festival, dass im Untertitel den Anspruch erhebt, das Festival für „fortschrittliche Musik“ zu sein. Das wurde schon im Vorfeld des Festivals im Internet kritisiert. Ich bin jedoch froh, dass nicht Elektrogeknarze an Falsettstimme mit halbstündiger Rückkopplung von der Violine serviert wurde. Und wenn fortschrittliche Musik bedeutet, das musikalische Erbe zu wahren, dann kann zumindest ich dieser konservativen Art gut folgen. Für alle anderen gibt es ja Donaueschingen. Boah, kommt jetzt mal bitte endlich dieser Scheißzug!

.........................................ratsch.

Alle Artists, alle Links, z.T. Soundsnipets bei:

http://www.sonar.es/