Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Donnerstag, 15. Juni 2006
Meerleichen-die Wucht in Dosen.

Normalerweise bleibe ich Lebensmitteln fern, deren Verfall am heutigen Tage auf, zum Beispiel, den 09/12/2009 angekündigt ist. 2009 wäre ich gerne noch am Leben. Einmal, ich war 17, aß ich ein Hähnchenfrikassee, dessen Namensgeber zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre tot war und bis zum Erreichen seines Verfalldatums noch locker die auch von mir angepeilte Volljährigkeit erreicht hätte. Mein Vater hatte damals aus Bundeswehrbeständen günstig Überlebenspakete für Deutsche Soldaten im Ernstfall ersteigert. 275 in güldene Folie verschweißte Tierkadaver füllten unseren Keller, jedem toten Tier war ein backsteingleicher Keks als Nachtisch beigelegt. Mit 18 begann ich dann meine Kochlehre.

In einem selbstlosen Selbstversuch aber, habe ich mich gestern Abend, bei Wein und Brot, mutig durch eine spanische Spezialität gegessen: tote Meeresfrüchte die derzeit auch noch bis 2009 genießbar sein sollen. In mehr oder weniger gutem Öl eingelegt, harren bis zu zwanzig Meter Poseidonplatte in den üppig gefüllten Regalen der Supermärkte. Fischdosen sind Kult hier, man kann sehr viel Geld dafür ausgeben, aber auch sehr günstig den Toten hinterher tauchen. Ab 39 Cent gibt es die eingedoste, gemeine „Mackerel“, wer noch ein paar Cent drauf gibt, kann Stabmuscheln, Miesmuscheln, jede Art von Meeresschnecken, Pulpo, Calamares, Seeigelroggen, Gambas oder Chipirones erstehen, die im Blech länger Leben als Kindheit, Jugend und Erwachsensein insgesamt dauerten. Schwimmend in der Ewigkeit eines Muschellebens, schwimmend in Aceite, in Öl, wahlweise billigem Maisöl, aber auch in feinstem Olivenöl mit Nennung des Presswerkes. Die dem Deutschen eigene Fischdosen-Kreativität entfällt. Nix da mit Meerrettichsahne, provençalisch, Helgoländer Art, Senfsahne mit Gürkchen! Hier geht das so: rein in die Dose, Öl drauf, fertig. Tomatensauce geht noch eben so. Ist aber ein Minderheiten-Thema.

Beim öffnen der Fischdosen überfällt den Zugereisten erst ein infernalischer Duft (Makrele geht), dann leiser Zweifel an der kulinarischen Vorbildung und zuletzt das sehr Deutsche Gefühl des Anpassungswillens. Es muss gehen, anderer essen es ja auch! Die Stabmuscheln sehen aus wie erbleichte Elektrokabel mit braunen Rändern und schmecken auch so. Die Miesmuscheln verblieben dankenswerter Weise direkt im Supermarkt, ein Akt plötzlicher Klarsicht und nicht etwa ein Akt der Entsagung. Wer aber jemals die rosa schimmernden Baby-Pulpo-Tuben gesehen, sie einer gallertartigen Schicht und öligem Schlier entrissen, und tapfer ein Exemplar zum hungrigen Mund geführt hat, der lässt alle Hoffnung fahren. Ich kaue langsam, dann im Moment der Erkenntnis schneller. Krachend beiße ich auf Schild und Oktopuszähne (ja, die haben Zähne), es knirscht ganz fürchterlich. Soviel Wein kann ein Mensch gar nicht trinken. Schwester, Skalpell, das will ich mir doch mal genauer ansehen!

Es muss so sein: Irgendwo in der Fischkonservenfabrik „Dani“ in Barcelona, arbeiten ehrliche, genügsame, spanische Arbeiterinnen in der Abteilung „Chipirones“. Den abgekochten Tuben entreißen sie, in nicht Enden wollenden Schichten (und Rauchen darf man seit neustem auch nur noch draußen), Kopf und Innereien, nur um, und jetzt wird’s rätselhaft, das gesamte Gelöt sofort wieder in die toten Tiere zu stopfen. Rein in die Dose, Öl drauf, fertig.

Nun hab ich ja Früher, in der schweren Zeit, durchaus auch mal den Bub mit Dosenfisch durch entbehrungsreiche Winter gebracht und aus jener Zeit stammt auch das folgende Rezept, welches jedweden Fisch, so er nur in Öl eingelegt war, gefügig macht und in eine schmackhaften Mahlzeit für junge Menschen verwandelt. Den Fisch aus der Dose nehmen und alles Öl in einem Sieb abtropfen lassen. Mühsam, unter Einbeziehung größerer Mengen Spülmittels, das Spülbecken putzen. Die Fischstücke mit Liebe auf einem Teller anrichten (das Auge isst mit!). Eine halbe Zwiebel, noch besser eine kleine Schalotte, sehr fein würfeln und über den Fisch streuen. Mit Salz und grobem, schwarzem Pfeffer aus der Mühle großzügig bedenken. Mit Balsamessig und Olivenöl beträufeln und mit Baguette genießen. Das gesparte Geld für gute Weine ausgeben.

Hier in meiner spanischen Kemenate, scheiterte ich sogar mit diesem, göttlichen, Rezept an den Chipirones, es war aber noch Mackerel da und Kartoffelchips können die Spanier aber so was von gut!