Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
Montag, 3. April 2006
Eine Postkarte aus: Berlin
herr paulsen
13:08h
Da hängt doch was unter dem Auto? Ein letzter Blick auf den abgestellten Wagen in der Hotel-Tiefgarage sorgt für Sorgenfalten. Näheres Hinsehen offenbart, ja, da hängt was, es ist der Auspuff, der soll da auch hängen aber nicht so. So. Tief. Wir checken ein im „Lux11“, einem zentral gelegenen Mittelklasse-Hotel das auf Design-Hotel macht, man lebt in grauem Waschbeton, farblich abgestimmt das strenge Mobiliar und wer es mag, kann dem Partner vom Bett aus beim Duschen zuschauen, es lebe die Transparenz! Es gibt eine Küchenzeile, einen DVD Player und einen Flachbildfernseher. Sogar eine Spülmaschine gibt es. Dafür gibt es keine Minibar und wir widerstehen leichten Herzens dem Abendzerstreuungsangebot unserer Herberge (Fernsehen, Spülen, Dusche, Durst) und machen uns auf den Weg in die Weinbar Rutz. Vor Tagen schon hatte ich dort einen Tisch für die Liebste und mich bestellt, es gilt, das Angenehme (kulinarische Blog-Lesung) mit dem Abgenehmen (Essen gehen!) zu verbinden. Mit dem Küchenchef der Weinbar Rutz, dem begnadeten Marco Müller, schlug ich mir Anfang der Neunziger im Berliner Interconti (Restaurant Hugenotten) die Jugend um die Ohren und ich freue mich auf das Wiedersehen. Marco Müller übernahm vor zwei Jahren die Küchenleitung von TV Koch Ralf-the Ziegenbart-Zacherl und schaffte es in kürzester Zeit auf 16 Punkte im Gault Millau. Wir haben unverschämtes Glück, sitzen pünktlich zum fünften Geburtstag von Deutschlands größter Weinbar in ebendieser und genießen ein fünf Gänge Menü mit korrespondierenden Weinen für sagenhafte 55,55 Euro. Auf jedem Teller eine Palette von geschmacksintensiven Kleinstkunstwerken, die doch jedes Mal ein rundes Ganzes bilden, die Harmonie der kleinen Dinge, große Kochkunst. „Ich verachte die Drei-Komponenten-Küche“, wird uns Marco Müller später im Gespräch erklären und wir sind dankbar dafür. Zart schmelzendes Tomaten-Sorbet mit Olivenöl, cremig-schaumiger Bärlauch-Cappuccino mit Lamm-Kassler-Praline, in 24 Gewürzen 24 Stunden marinierter Thunfisch auf perlendem Couscous, butterzarter Kalbstatar sind nur einige Highlights aus Marcos Aromenküche. Unschlagbar aber der Hauptgang, geschmorte Backe vom Charolais-Rind die auf der Zunge zergeht in einer würzigen Jus gebadet, dazu buttriges Selleriepüree und Spinatknöpfle mit Garnelenhack. Wir sitzen direkt vor der, zum Gastraum geöffneten, Küche und beobachten muskulöse, junge Männer in bedruckten T-Shirts mit Piratenkopftüchern, Irokesen-Haarschnitten und Ziegenbärten, die hoch konzentriert und mit weichen, geschmeidigen Bewegungen Sauteusen schwenken, Saucen aufschäumen und mit Pinzetten anrichten. Beim anschließenden Gespräch mit Marco Müller, bildet sich in mir spontan der Wunsch, wieder in der Gastronomie zu kochen. Diese Leidenschaft mit der er von seinen Ideen erzählt, diese absolute Liebe zum Handwerk, zum Produkt, für die alles geopfert wird, ist überzeugend und beeindruckt mich nachhaltig. Marco Müller ist Überzeugungstäter und ein ganz großer Koch. Beim nächtlichen Verdauungsspaziergang präsentiert sich mir Berlin, ganz so, wie ich es in Erinnerung hatte. Zumindest im künstlichen Amüsierbetrieb zwischen Oranienburger und Hackescher Markt, dieser missglückten Simulation einer mediterranen Uferpromenade, ist die Nacht lautstark amüsierwillig, techno-trunken und dick geschminkt. Ein bisschen weinen muss ich dann bei einem sentimentalen Besuch im ehemaligen „Kurvenstar“, der jetzt ganz anders heißt und in dem sich rotgesichtiges Jungvolk zu Dutz-Batz-House aus dicken Boxen, überteuertes Importbier über die preiswerten Anzüge kleckert. Ein menschliches Bedürfnis zwingt uns später noch zu einem letzten Einkehrschwung in eine spanische Tapas-Bar, dort spielt man neben allerlei folkloristischen Heimatweisen auch immer wieder gerne Irish-Folk. Da kann die WM ja kommen. Vor die kulinarische Blog-Lesung hat der Herrgott einen Kater gesetzt, der es in Form und Schwere durchaus mit den Betonmauern unseres Zimmers aufnehmen kann. Und da war doch noch was mit dem Auspuff. Der ADAC-Mann liegt pünktlich um 9:00 Uhr unter meinem aufgebockten Wagen und macht immer: „Ach jeh!, Ohweh!, Neeee, meine Jüte, wat ne Kacke!.“ Dann erzählt er von abgerissenen Auspuffwannen auf Autobahnen, sich überschlagenden Autos mit Großfamilien, Feuer, Tod, Vernichtung. Wir verbringen den Vormittag mit der Suche nach einer Autowerkstatt. Der Nachmittag führt mich in viele, viele Schuhgeschäfte und Klamottenläden, aus Langeweile probiere ich auch Sachen an, meistens Schütteln die Liebste und der Verkäufer gemeinsam die Köpfe. Das ist gut, das spart Geld und Geld brauche ich, als ich am Spätnachmittag meinen Wagen auslöse. 400 Euro kostet der Spaß und ich muss mich wirklich kurz hinlegen. Die Liebste turnt unermüdlich mit Freuden durch Berlin und ich liege mit offenen Augen zwanzig Minuten in Elend und Waschbeton, grüble wie ich heute Abend wohl lesen soll. An Schlaf nicht zu denken. Im Flachbildschirm läuft MTV, eine Sendung über Rockmusik und Drogen. Drogen wären jetzt super. Ich hab nicht mal eine Minibar. Ersatzdroge Spaziergang, frisch geduscht mache ich mich auf den Weg zur Lesung. Im Café Babel bekämpfe ich aufkommende Anspannung mit einem großen Bier und freue mich über jedes bekannte Gesicht. Ich versteh das nicht: Ich freu mich immer sehr auf solche Treffen/Lesungen, wenn ich aber da bin, möchte ich am liebsten immer sofort wieder gehen. Smalltalk kann ich nicht, Namen merken ist auch nicht meine Stärke, ich verkrampfe dann irgendwann stark, denke dann, jetzt denken alle du bist so ein verkrampfter Typ, daraufhin verkrampfe ich dann so richtig. Und genau in diesem Moment nährte sich Frau Wortschnittchen und eröffnete mir, dass ich bitte als Erster lesen solle. Ein Arzt. Ich erwache wieder als Applaus einsetzt und ich die Bühne verlassen darf. Das ist das Schöne am Erster sein, man hat es hinter sich. Ich genieße die Lesung. Und ich werde jetzt hier nicht das gesamte Programm durchhecheln, nur soviel: Ich habe mich sehr gefreut Frau Engl entdeckt zu haben, ihr Blog war mir bislang nicht unter gekommen und ihre wundeschöne Sprache veranlasste mich sofort ihren Roman „Lucas“ zu erweben. Und Bov Bjerg. Seine „Schinggenudle“ katapultierten mich in Lichtgeschwindigkeit zurück in meine Kindheit im Schwäbischen, eine punktgenau Miniatur der schwäbischen Seele und, es sei mir das Wortspiel erlaubt, zum brechen komisch. So und jetzt freue ich mich auf ein Wiedersehen in Hamburg, beachten Sie dazu bitte die neongelbgrüne Ankündigung oben rechts. ..........................................ritsch. Links zum Thema: Lesungs-Blog: http://gelage.twoday.net/ Audio-Mitschnitt: http://www.bordbuch.net/podcast/2006/04/bloglesungsgela_1.html Nachlesen: Fotos: kommen noch
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