Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 28. November 2005
Tagebuch eines anderen

Ich bin diese Woche arbeitslos. Eine Agentur hatte mich für die gesamte Woche gebucht und den Fototermin dann am vergangenen Freitag komplett abgesagt. Wenn man arbeitslos ist, kommt man schnell auf dumme Gedanken. Und heute morgen, ja, da bin ich auf den Dachboden gekrochen und habe meine alten Tagebücher in die Wohnung geschleppt. Ich hab ja Zeit!

Tagebücher? Ja, es geht ein Gespenst um in Blogland, das Gespenst der alten Tagebücher. Angefangen hat es meines Wissens bei Gaga. Nachgezogen hat Kid37 und in den dortigen Comments werden schon lautstark Befürchtungen geäußert, bezüglich der Wertigkeit alter Tagebücher. Auch Lisa9 tat sich schwer mit ihren alten Tagebüchern. Den Blog-Vorläufern auf Papier wird Peinlichkeit unterstellt, die Nachwelt wartet nicht auf pubertäre Ergüsse. Isabo geht sogar so weit, ihr Gesamtwerk nach kurzem Studium zum Altpapier zu tragen.

Das kann doch so nicht sein, denke ich, erklimme die Dachkammer und kehre mit sechs gebundenen Tagebüchern zum Schreibtisch zurück. Vier Stunden brauchte ich um mich durch mein Leben von 1984-1991 zu lesen. Alles doch seeehr ausführlich.

Ich kenne den jungen Mann, der mir in den Büchern begegnet, ich verstehe ihn sogar. Aber ich hatte ihn im Laufe der Jahre vergessen. Jetzt begegnen wir uns wieder und er zeigt mir, wer ich mal war. Es beginnt mit der Internatszeit. Seitenlange Anklagen, ein „Schweinesystem“, vom „Staat im Staat“ ist da die Rede. Drastische Gewalt zwischen Schülern, erschütternd der Bericht über eine Folter, die der junge Mann über sich ergehen lassen musste. An eine Wand gestellt, wurde er von älteren Schülern erst mit Dart - Pfeilen beworfen, anschließend schlug man ihm mit Knöcheln so lange auf die Brust, bis ein flächen deckendes Hämatom entstanden war. Die Erzieher und Pädagogen ein Haufen Nichtskönner. Weggucker, die sich an einem simplen Strafsystem durch die Jahre hangeln. Irgendwann wehrt sich der junge Mann, schlägt einem älteren Mitschüler der ihn bedrohte zweimal kräftig ins Gesicht und brüllt den am Boden Liegenden an: „Leute wie du sitzen in zehn Jahren mit einem Pappschild in der Fußgängerzone. Wenn ich dich dann da sehe, mach ich Dich wieder fertig!“. In seinem Tagebuch vermerkt der junge Mann ein Gefühl der Genugtuung, schildert aber auch seine Überraschung.

Ab jenem Moment, entwickelt sich der junge Mann zu einem gewaltbereiten Kotzbrocken, der alle drei Tage die Jugendbewegung wechselt, mal Punk, mal Rockabilly, bisschen Ska, bisschen Skin. Das neue Nena-Album findet er klasse, aber nur heimlich. Er singt in der Schulband, er dreht Filme mit der Film-AG, er eröffnet ein Wochenend-Kino für Nichtheimfahrer und wundert sich nicht, dass ihn trotzdem kaum jemand mag. Er hasst ja auch alle.
Frauen kommen nicht vor. Frauen interessieren den Kotzbrocken nicht. Der Kotzbrocken ist mit sich beschäftigt und will ansonsten gerne mal Ficken, das wollen aber die Frauen nicht. Dann halt nicht.

Der Kotzbrocken beginnt eine Lehre. Dort lernt er, dass das Internatssystem im wirklichen Leben nicht funktioniert. Er merkt, dass Kochen seine Leidenschaft ist, er lernt nett zu sein oder zumindest so zu tun, er wird ein ausgeglichener junger Mann. Jetzt gibt es auch Frauen. Viele. Aber! Alle schwierig! Erst jetzt kommt, was zu erwarten war, pubertäre Gefühlswehen, gebrochene Herzen, Partys ohne Ende und kochen, kochen, kochen. Aber so richtig geil!

Im letzten Buch, macht sich der junge Mann auf nach Berlin. In nur einem Jahr verwandelt er sich wieder in einen Kotzbrocken, behauptet, dass die Stadt das mit ihm macht, verwandelt sich körperlich in ein fettes Walross und bezweifelt, dass aus seinem Leben noch mal was wird. Hier enden die Aufzeichnungen. Gott sei Dank, denn der einsame Fettsack wird jetzt Dichter, schreibt für Publikum. Düster-verquastete Miniaturen, schwarz die Welt, durchzogen von hoffnungsfrohen Grautönen, schwerfällig ziehen sich pathetische Endlossätze, geklaut von Kafka und King, ein kruder Mix, ein betrübliches Schlamassel.

Ich hatte den jungen Mann vergessen. Nein. Nicht wirklich. Ich glaube ich hatte den Kotzbrocken verdrängt, weil der doch mit mir nichts zu tun hat. In den Tagebüchern lese ich das Gegenteil. Peinlich? Nein, eher unangenehm.

Die Tagebücher kommen jetzt sofort wieder auf den Dachboden. Was bleibt ist Dankbarkeit dafür, dass der junge Mann alles aufgeschrieben hat, um nicht in Vergessenheit zu geraten, dann irgendwann die Stadt gewechselt hat und das Leben, sich entschieden hat, ein anderer zu sein. Sonst wäre ich heute ein anderer. Und das wäre mir dann doch wirklich sehr peinlich.