Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 21. Februar 2005
Nur mal ganz kurz: Die Grünkohl-Gewissensfrage

Samstag. Die freundliche Landfrau will uns eine Freude machen und schenkt uns zwei Beutel Grünkohl, geputzt, gewaschen und vorgegart. Auch war der Grünkohl schon eingefroren, taute vor sich hin und forderte rasche Verarbeitung. Nun ist es so, dass im Hause Paulsen der Wochenend-Genuß-Plan bereits Mitte der Woche unumstößlich steht, wir lieben das kulinarische Vorspiel der Vorfreude und sind daher wenig flexibel. Ich beschließe, den Grünkohl am Sonntag zu kochen und einzufrieren. Wir kaufen Schweinbauch, vier Scheiben Kasseler und sechs Kochwürste zu.

Sonntag. Wir rufen Oma an und entlocken ihr das ultimative Grünkohlrezept (einfach kochen). Ich setze den Grünkohl mit Schweinebauch und wenig Wasser an und schmore das ganze eine Stunde. Ich gebe die Kochwürste und die vier Scheiben Kasseler dazu und schmore eine weitere Stunde. Es duftet wunderbar, ich würze mit wenig Salz und schwarzem Pfeffer aus der Mühle. Es schmeckt köstlich. Den großen Kochtopf stelle ich auf den Balkon zum abkühlen, koche dann knuspriges Knoblauchschweinefleisch auf gebratenem grünen Spargel mit Sprossen, süß-scharf. Wir essen und kucken „Polizeiruf“.

Nach der Sendung hole ich den abgekühlten Grünkohl vom Balkon, bereite zwei Einfrierboxen vor. In jede Box lege ich drei Würste und je zwei Scheiben Kasseler und will gerade das ganze mit Grünkohl bedecken, da entdecke ich, es fehlt eine Scheibe Kasseler. Ich wälze den Grünkohl. Nichts. Weg. Ich gehe zum Balkon, leuchte mit der Taschenlampe, kein Kasseler. Ich melde den Diebstahl der Liebsten und wir kommen ins Grübeln.

Menschlicher Mundraub fällt aus. Es ist unmöglich unseren Efeu umrankten Balkon so leise zu erklimmen, das wir nicht doch was gehört hätten im Wohnzimmer, außerdem hätte man den Efeu und die Gebüsche mit einer Machete entfernen müssen. Ein hungriger Mensch hätte zudem zumindest noch eine Wurst, wenn nicht gar den ganzen Topf mitgenommen. Bleibt die Tierwelt.

Es gibt Raben, Elstern, Möven, Tauben und Amseln. Wir haben Katzen in der Nachbarschaft. Wir stehen in der Küche über den Grünkohltopf gebeugt und denken angestrengt nach. Vor meinem Inneren Auge taucht ein Rabe auf. Er setzt sich auf den Topfrand und flattert mit den schwarzen Flügeln, dabei fallen viele Krankheitserreger in den Grünkohl. Er fliegt mit dem Kasselerstück davon. Die Liebste berichtet von einer Katze, imaginiert einen verdreckten Kater in dessen Fell sich Würmer befinden. Er schnappt sich das Kasselerstück und markiert den Topf mit etwas Urin. Einige feine Katzenhaare werden im Grünkohlgrün unsichtbar.

Ich rieche am Grünkohl. Er riecht nach Grünkohl. Mit bloßem Auge ist nichts zu erkennen, was nicht reingehört. Obwohl mir schon sehr schlecht ist, erkläre ich kurz, man könne den Grünkohl ja ordentlich kochen und so alle Bakterien töten. Die Liebste zweifelt daran. Ich auch. Wir denken an die freundliche Landfrau, an die Kosten für das Fleisch, an die Arbeitszeit. An die Kinder in Afrika denken wir nicht, mit dieser Ungerechtigkeit haben wir uns arrangiert.

Wir denken wieder an Tiere. Krankheitserreger, Bakterien, Parasiten. Können wir das jetzt wegschmeißen? Müssen wir das jetzt wegschmeißen? Sind wir übersättigte Verschwender, pingelige Wohlstandskinder?

Wir stehen in der hell erleuchteten Küche, starren wortlos in den Grünkohl und fragen uns ob die Bilder in unseren Köpfen jemals zulassen werden, das wir diesen Grünkohl, gut durchgekocht, doch noch, eines Tages, mit Appetit genießen können?