Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Freitag, 11. Februar 2005
Herr Paulsens erbauliche Sonntagspredigt. Folge 5: Die Umzgshelferfrage

(Immer Sonntags macht sich Herr Paulsen an dieser Stelle Gedanken über die Unzulänglichkeiten der Welt. Aus aktuellem Anlass diesmal Freitags)

Die Umzugshelferfrage



Ich bin 35 Jahre alt und verdiene derartig Geld, dass ich davon gut leben kann. Hier ist anzumerken, dass ich auch mit einer gut gemachten Schüssel Spaghetti Bolognese und einem gekühlten Pinot Grigio sehr glücklich sein kann. Seit längerem spare ich schon. Für den Umzug. Ich ziehe nämlich um. Seit Oktober 2004 suche ich für die Liebste und mich eine Wohnung und wenn es irgendwann mal klappt, will ich genug Geld beiseite gelegt haben um meinem Freundeskreis eine so beschämende wie unnötige Prozedur ersparen zu können, die besonders bei Menschen jenseits der Dreißig immer mehr auf Unverständnis und Ablehnung stoßen sollte:

Die Einladung doch bitte nächstes Wochenende, Samstag zum Beispiel, beim Umzug zu helfen.

Nein, das soll meinen Freunden (und mir) erspart bleiben. Fiebrige Vorfreude überfallt mich bei dem Gedanken, dass da eines schönen Tages die Umzugsprofis an der Tür meiner „alten“ Wohnung klingeln, mit jungfräuliche Umzugkartons unter den Armen einen schönen Tag wünschen und loslegen. Ich habe nämlich einen Vertrag mit sämtlichen Umzugsunternehmern dieses Landes. Die machen kein Foodstyling, dafür mache weder ich noch irgendjemand aus meinem Freundeskreis den Umzugshelfer. Umzugshelfer-Amateure sind nämlich meistens und besonders an Samstagen schrecklich verkatert, arbeitsscheu (ist ja nicht ihr Kram) und müssen nach spätestens einer Stunde „weg, das ließ sich nicht verschieben, ich werde heute am Herzen operiert, sorry, aber die ersten vier Kisten sind ja jetzt oben!“. Machen sich aus dem Staub, noch bevor die für danach angekündigte Einweihungsparty überhaupt losgehen kann. Zu Recht! Niemand möchte Samstagnacht, mit schweren Gliedern, nach zwölfstündigem Krafttraining, mit lauwarmem Bier („komisch, heute Morgen waren die noch eiskalt“) und bei Chips & Flips („nehmt nur, ist reichlich da“) seinem Schwächetod entgegen wanken, während unter Abdeckfolien ein farbbekleckstes Transitorradio Kommerzmucke krächzt, weil die Anlage ja noch eingepackt ist.

Nun glaubte ich, mir und meinem inzwischen gereiften, vom Leben auch finanziell verwöhnten Freundeskreis würden solcherlei „Einladungen“ nicht mehr angetragen. Bis mir Alexander Gathmann (Name geändert) diese Woche eine Mail schickte. Von Alexander Gathmann hatte ich länger nichts gehört und freute mich über die Neuigkeit, es sei ihm gelungen, sich und seinen Lieben eine neue Heimstadt zu finden. Standesgemäß in Quadratmeterzahl und Lage. Gathmann arbeitet seit vielen Jahren als leitender Angestellter im Büro eines Star-Rechtsanwaltes, lebte aber bislang mit Frau und Kindern in einer recht übersichtlichen, düsteren Neubauwohnung. Aus den 50ern. Ich freute mich also aufrichtig über die längst überfällige Lebensverbesserung der Familie Gathmann. Dann las ich weiter. Ob ich denn wohl am Samstag tatkräftig beim Umzug mithelfen könnte, es wäre auch fürs leibliche Wohl gesorgt. Das bezweifelte ich. Beides. Und wenig beruhigte mich der Umstand, das Gathmann, die Empfängeradressen nicht unkenntlich gemacht hatte und ich auf diesem Weg erfuhr, das nach seiner Einschätzung, noch 25 weiter Menschen zu seinem geschätzten Freundeskreis gehörten. Die Mail endete mit dem Satz: „Viele Hände, rasches Ende!“ und einem :-)

Ich wählte Gathmanns Nummer um abzusagen. Sabrina Gathmann war am Apparat und nahm meine Absage verständnisvoll entgegen. Am nächsten Tag rief Gathmann an. Ja ob ich denn seine Mail nicht bekommen hätte? Wahrheitsgemäß antwortete ich, und erzählt auch, dass ich bereits mit Sabrina gesprochen hätte, ja nur leider, wie gesagt an diesem Wochenende ginge leider gar nichts.

Gathmanns Antwort stürzte mich mit ihrer Dreistigkeit sofort in ein tiefes Loch der Sprachlosigkeit, welches gut eine Minute tief war, doch hören Sie selbst:

„Ah, na ja, dann hol doch mal Deinen Kalender, wir streichen und lackieren ja die ganze Woche, da kannst Du ja mal kucken, wann du dazu stoßen willst.“
Ich kletterte aus dem Loch, log, ich hätte zurzeit keine Zeit, also eigentlich nie mehr. Gathmann wurde einsilbig und legte enttäuscht auf.

Ich fühlte mich schrecklich. Ich hatte einen Freund angelogen! Ihm meine Hilfe verweigert! Freunde sind Menschen, die auch mal Forderungen stellen, ja stellen dürfen, das ist ihr gutes Recht. Und ich? Trat die Freundschaft mit Füßen!

Ich stürzte in eine tiefe Sinnkrise die mehrere Tage dauerte und erst gestern, während einer sechsstündigen Bahnfahrt überwunden werden konnte. Die Bedienung am Tresen des Speisewagens hatte mir gerade mit hochgezogenen Augenbrauen und den Worten „Ach? Noch eins?“ mein drittes Bier überreicht, ich starrte in den müden Schaum und dachte über Umzugshilfe nach. Und plötzlich erkannte ich, dass ich nicht nur Gathmann angelogen hatte, sondern, und das tut mir sehr leid, auch Sie werte Leserinnen und Leser. Zu meiner Entschuldigung ist nur vorzubringen, dass ich mich selbst ebenfalls belogen hatte. Es geht nämlich gar nicht um Geld, Finanzen oder Reife. Vergessen Sie auch das mit dem Standesgemäß.

Im Zug fielen mir nämlich plötzlich Freunde ein, denen ich jederzeit beim Umzug helfen würde. Zum Beispiel diesem wunderbaren Theaterregisseur vom Bodensee, mit dem ich die schlimmsten Jahre im christlichen Knaben-Internat überstand, dem würde ich die Kisten von Süddeutschland nach Hamburg tragen. Wir telefonieren zweimal im Jahr und sehen uns einmal im Jahr. Höchstens. Ich wäre trotzdem sofort dabei. Oder mein bester Freund mit dem wunderlichen Namen Andropovs Onkel, ich würde für ihn 24 Stunden Kochbücherkisten schleppen und wäre es mein einziger freier Tag im Jahr. Sogar Samstags. Verkatert!

Nein, die Tage des Selbstzweifels endeten kurz vor Hamburg im ICE 782, mit der schlichten Erkenntnis, dass Gathmann wohl einfach nur kein richtiger Freund mehr für mich war. Und ich hatte nicht mal gemerkt, das unsere Freundschaft mit den Jahren abhanden gekommen war. In die Traurigkeit über die Entdeckung einer leise verschwundenen Freundschaft mischte sich ein klares Gefühl für die richtige Entscheidung. Ich würde weiter sparen um im Falle eines Umzuges das involvierte Umzugsunternehmen fürstlich zu entlohnen. Und sei es nur, um meinem Freundeskreis etwaige Erleuchtungen über den Stand unserer Freundschaft zu ersparen.