Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Dienstag, 25. Januar 2005
Tote Großeltern, familiäre Plünderungen & Uromas 101ter Geburtstag

Ich war noch nie in einem Altersheim. Sind alle weggestorben, meine Großeltern. Oma Paulsen zuerst, ein zartes Vögelchen, sie duftete nach Rosen und sammelte Porzellanfiguren. Ich war für weitere Erinnerungen zu jung. Als Opa U. starb, hätte es mich fast zerissen, ich kann noch heute kaum sein Grab besuchen ohne in Tränen auszubrechen, den Mann habe ich geliebt und ich war alt genug für Erinnerungen. Gorßvater U. hat im Krieg die Soldaten zusammen geflickt und mir die Fotoalben gezeigt. Er schlug Seite um Seite auf, und deckte dann die schlimmeren Bilder mit seinen großen, zarten Chirurgenhänden ab. Aber ich wusste ja in welchem Schrank die Alben liegen. In Opa U.s Praxis gab es die dicksten, saftigsten Gummibärchen, die werden heute nicht mehr hergestellt. Opa U. konnte toll vorlesen und ich saß immer parallel zu ihm auf seinem Schoß, und umfasste seine gigantische Birnennase, die ich in der Sportversion geerbt habe. Opa U. klang dann sehr näselnd, aber die Nähe war wichtiger.

Als Opa U. starb, folgte ihm Oma U. ziemlich schnell. Bevor sie starb, sah sie Sachen und Dinge die nicht da waren. Das fand ich sehr gruselig. Einmal beschwerte sie sich, Opa U. würde sie überhaupt nicht mehr zum Essen ausführen. Dabei hat Oma U. immer selbst gekocht. Ich weiß kaum was von ihr, sie war immer nur in der Küche, legte gigantische Schinkenplatten mit Dosenspargel, kochte Suppen, Ragouts und Pudding, wir mussten immer sehr viel essen bei Oma U. und ich fand das prima. Stundenlang saß ich auf einem Barhocker in der Küche und sah ihr beim Kochen zu, nachdem ich an der Küchentür gemessen worden war und mein Wachstum mit einem Prilblümchen für die Ewigkeit festgehalten wurde. Schön war auch der Eiskeller im Haus, hinter einer schweren Stahltüre lagerten tonnenschwere Torten, Frankfurter Kranz, Sahneschnitten.

Nachdem auch Oma U. gestorben war wurde ich Zeuge eine beispiellosen „Geschwister plündern das Elternhaus“-Aktion. Abends saß ich mit meiner Mutter zusammen, müde, erstaunt und verwirrt bat ich sie um einen Gefallen: „Mutsch, wenn Du mal stirbst, ich will nix, nur die Beatles-Platten und die Songbooks“
„Junge! Da musst du doch nicht warten bis ich tot bin“, rief sie, stümte ins Musikzimmer und vererbte mir jede Beatles-Platte auf diesem Planeten, dazu alles von Zappa, Johnny Cash, Harry Belafonte, Led Zeppelin, Creedence Clearwater Revival, Steppenwolf und ca. fünfzig seltsame Singles (Bonanza, Máh-ná-mah-ná, La bambola). Meine Mutter hatte sich bei den Plünderungen zurück gehalten und so verschwand alles. Die Kriegsfotoalben, die Kochbücher meiner Oma, der kleine Tisch der Doktor Schiwago spielte wenn man die Platte anhob. Verschwunden, alles. Und so wenige Erinnerungen.

Zuletzt starb Opa Paulsen. Man redet nicht viel über Ihn und noch weniger Gutes. Ich habe Ihn leider nie selbst befragt.

Wenn ich höre und sehe, dass Menschen in meinem Alter noch Großeltern habe, kann ich das immer nicht glauben, bin erstaunt und neidisch. Das kann doch nicht sein. Wie geht das denn bidde? Seit zwei Jahren habe ich auch wieder Großeltern. Die Großeltern der Liebsten haben mich adoptiert, es sind tolle Großeltern, Sie sehen aus wie Großeltern und sie schenken mir ohne zu fragen Liebe und Anerkennung. Und Socken und Geld. Zu Oma darf ich sogar Oma sagen, Opa nenne ich gerne und respektvoll Herr P. Es ist nicht dasselbe, Leihgroßeltern, aber es ist schön wieder mit älteren Leuten zu sprechen, Herr P. erzählt sehr schön und Oma kocht richtig schön Norddeutsch, das kenne ich gar nicht. Die beiden sind agil, Reisen viel und nehmen am Leben ihrer vier Kinder und acht Enkel teil. Ich bin mir sicher. Sie werden niemals sterben.

Oder zumindest so alt wie Urgroßoma. Deren Enkel wiederum bilden auf Geburtstagsfeiern einen imposanten Chor in dem jetzt auch ich mitsingen darf. Sonntag wurde Uroma 101 Jahre alt und ich kann darüber genauso lange nachdenken wie über die Unendlichkeit und es ist genauso unfassbar.

Am Sonntag ging ich also zum ersten Mal in ein Altersheim. Es riecht nicht schön da, es riecht nach Tee, Metall, schwerem Parfum und leicht nach Pipi. Gleich am Eingang sitzt der Platzhirsch und begrüßt uns brüllend. Der alte Herr ist umringt von weiblichen Fans um die Achtzig, die ihn anstrahlen, während er uns ungefragt eine Wegbeschreibung zur Feierlichkeit zubrüllt. Wir danken und gehen durch die Gänge zum „Kaminzimmer. Da sitzt Uroma mit ihren Gästen. Jetzt brüllen wir. Gratulieren und sagen dazu wer wir sind. Uroma scheint mich zu erkennen und schenkt mir ihr sonnigstes Lächeln. An ihrem hundertsten Geburtstag hatte sie ein donnerndes Machtwort gesprochen, was mich angeht. Sie nahm damals die Liebste beiseite und wollte wissen „ob er schon gefragt hat?“. Als die Liebste verneinte, winkte Uroma sie ganz nah zu ihrem Mund und flüsterte der Liebsten ins Ohr: „Wenn der nicht bald fragt, dann sagst Du zu ihm: tschüss ich such mir jetzt einen anderen.“
Oma hört nicht mehr gut, aber sie sitzt da, freut sich und beobachtet die jungen Menschen an den Tischen genau. Dazu trinkt sie Sekt. Tante G. hat den Sekt besorgt. In der Altenheimkantine. Dort sagte man ihr, es gäbe zwei Sorten. Tante G. ist das Beste nur recht und billig und sie antwortete: „Dann nehme ich den Teuren!“. Kopfschütteln beim Personal: „nein, nein, wir haben weißen und roten.“ Gut dass Tante G. den weißen Sekt genommen hat.

Alle mampfen Kuchen, trinken Blümchen-Kaffee aus Thermoskannen und Sekt und ab und zu brüllt jemand Uroma an, die nickt dann gewichtig oder schüttelt den Kopf, wie das sonst nur Eulen können. Uroma weiß, was sie will. Draußen auf dem Flur bricht der Mantelständer zusammen, ein Zeichen für den Aufbruch. Uroma sträubt sich, weggebracht zu werden, klammert sich am Sekt fest und trinkt das letzte Glas auf Ex. Herrlich. Durch die Katakomben geht es zu ihrem Zimmer unterwegs treffen wir auf Personal das brüllt: „Ja hallooooooo,
wen haben wir denn da, die Frau Elllllll!“. Uroma schickt Todesstrahlen durch ihre Augen und ein Enkel bemerkt schulterzuckend, tja, jetzt haben die einen Fluch am Hals. Man munkelt nämlich, Uroma könne hexen!

Im Zimmer angekommen, glaubt Uroma, wir seien Pfleger und gibt raunzend Befehle, wo Geschenke und Blumenschmuck aufzustellen seien. Dann knöpft sie sich energisch die Bluse auf, Feierabend, ich verlasse das Zimmer. Beim Rausgehen brüllt uns der Platzhirsch noch mal gute Wünsche hinterher, die Golden Girls grinsen.

Super Party! Ich freue mich auf den 102 Geburtstag von Oma und sage noch mal:

„Herzlichen Glückwunsch, schön, dass ich das noch erleben darf!“