Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Mittwoch, 13. April 2005
Die KAFFEE.SATZ.LESEN-Anthologie ist da! Buchpremieren in Hamburg und Berlin!

Seit 2003 veranstalten Herr Svensson und ich unter dem Namen redereihamburg.ev die Lesereihe KAFFEE.SATZ.LESEN. Jetzt gibt es endlich die Anthologie und Buchpremieren in Hamburg und Berlin. Der Berlin-Termin liegt übrigens nur wenige Tage vor blogmich! Also bitte Buch bestellen und Kalender raus!

1. DAS BUCH

KAFFEE.SATZ.LESEN 1-12
DIE ANTHOLOGIE

12 Nachmittage | 34 Autoren | 54 Erzählungen

Ein Sonntagnachmittag in Hamburg. Ein stählerner Fahrstuhl. Eine alte Fabriketage.

Es duftet nach Kaffee und Kuchen. Dicht gedrängt das Publikum. Eine Bühne, ein Tisch, ein Stuhl. Es nehmen Platz: Etablierte Literaten und literarische Neuentdeckungen, preisgekrönte Autoren und junge Talente. Willkommen bei KAFFEE.SATZ.LESEN .

Seit 2003 präsentiert die redereihamburg e. V. monatlich die Vielfalt der Hamburger Literaturszene und lädt Gastautoren aus ganz Deutschland ein. Immer spannend, abwechslungsreich und überraschend sind diese Sonntagsausflüge in die junge, deutsche Literatur.

Jetzt liegt das erste Jahr in Buchform vor. Zum neu Entdecken und weiter Lesen. Für die drei anderen Sonntage des Monats.

Autoren:

Kristian Bader
Martin Bartholmy
Daniel Beskos
Andreas Burgmayer
Verena Carl
Robert Cohn
Paula Coulin
Don Dahlmann
Lars Dahms
Konstanze Ehrhardt
Dierk Hagedorn
Herr Svensson
Maria Regina Heinitz
Finn-Ole Heinrich
Jana Liebig
Benjamin Maack
Angelika Maisch
Nils Mohl
Andreas Münzner
Herr Paulsen
Hartmut Pospiech
Andreas Priess
jochenausberlin
Gordon Roesnik
Bud Rose
Tex Rubinowitz
Bettina Schoeller
Ursula Schötzig
Nico Spindler
Oliver Trific
Friederike Trudzinski
Tina Uebel
Mathias Will
Franka Winter

Herausgeber:
Herr Svensson und Herr Paulsen (redereihamburg e.V.)
http://www.redereihamburg.de/

Lektorat:
isabo

Gestaltung:
Uta Ballerstedt
http://www.stil-punkt-3.de/

Verlag :
mairisch Verlag
http://www.mairisch.de/

240 Seiten, 14 €
ISBN:
3-938539-03-8

Bestellungen über

http://www.redereihamburg.de/

sowie im Buchhandel

2. BUCHPREMIEREN IN HAMBURG UND BERLIN

HAMBURG:
Erstmals vorgestellt wird das Buch in Hamburg am:

Sonntag, den 24.April.05

bei Kaffee.Satz.Lesen 20
Um 16:00 Uhr
in der Baderanstalt
Hammer Steindamm 62

Dort gibt es das Buch erstmals im freien Verkauf.

Abends steigt dann die große Premieren-Feier!

Am Sonntag, den 24.April.05
um 20:30 Uhr
In der Bar „Nord“
mit DJ Blume (Funk-Soul-Rocksteady-Reggae)
Vereinsstrasse 52 (U-Bahnhof Christuskirche)

BERLIN

Für unsere Berliner Autoren und Freunde gibt es eine Premierenfeier mit Lesung am:

Mittwoch, 04.Mai.2005
(drei Tage vor blogmich)

Um 21:00 Uhr
Laine-Art
Hofgebäude
Liebenwalder Strasse 39
(U9 Nauener Platz, U6 Seestrasse)
http://www.laine-art.com/

Buchpremiere und Lesung mit

Don Dahlmann (Berlin)
Martin Bartholmy (Berlin)
Bettina Schoeller (Berlin)
Daniel Beskos (Hamburg)
Herr Svensson (Hamburg)
Herr Paulsen (Hamburg)

Wer diesen Beitrag verlinkt, das Buch kauft, zu den Lesungen geht hilft uns bei der Umsetzung dessen, wofür die redereihamburg e.V., KAFFEE.SATZ.LESEN und der mairisch Verlag eintreten: die unbürokratische Förderung und Veröffentlichung neuer, literarischer Stimmen.

PRESSE:
Für weitere Informationen, Pressefotos, Interview-Anfragen und Rezensionsexemplare wenden Sie sich bitte an:
stevan.paul@redereihamburg.de

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Sonntag, 3. April 2005
Fundstück der Woche: Ich, 17

Ich bin Paulsen und schon bald achtzehn, ich bin der Sänger von unserer Band. Wir heißen "the cool and blue section" und haben gerade unser erstes Konzert gegeben, auf dem Elternfest. Wir waren gleich nach dem Turnprogramm dran und es war total kehl, wir haben voll abgeräumt. Unser Musiklehrer hat die Songs ausgesucht und mit uns geprobt und die Leute waren sofort begeistert als wir mit "Wonderful world" von Sam Cook gestartet sind. Dann haben wir "Smooth operator" gespielt, ich finde mit meiner männlichen Stimme klingt das viel besser als bei Sade. Der Höhepunkt war natürlich "Light my fire" von den Doors, das ist unsere stärkste Nummer, aber sauschwer zu singen. Ich will mir bald mal eine Platte von den Doors kaufen. Bei der Zugabe hat mir Frau Silersky, unserer Reli-Lehrerin, zugezwinkert und dann die Augen geschlossen und mitgesungen: "Susan" von Leonard Cohen. Textsicher, die Alte und ich hab ewig dafür gebraucht.

Nach dem Konzert waren alle schwer begeistert, sogar unser Direx hat gemeint, das sei interessant wie ich singe, nur daß ich mir Kajalstift unter die Augen gemalt habe, das fand er unpassend fürs Elternfest. Halt voll spießiger Typ.
Nächste Woche nehmen wir ne Casette auf mit allen Hits, die verkaufen wir dann beim Landjugendfest. Wird bestimmt ein voller Erfolg.
Ich sag nur Light my fire!

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Freitag, 1. April 2005
Diesmal noch nicht.

Sie würden es nicht bemerken. Alles was Sie sehen würden, wäre ein äußerlich sehr gefasster, ja, locker das Flugzeug erklimmender Typ, der sich easy going in den Sitz wirft, sich ganz beiläufig anschnallt, seine Zeitung herausholt und zu lesen beginnt. Sie werden nicht bemerken, wie sich das Zeitungspapier unter meinen Fingern langsam zu wellen beginnt und die Panikwellen die meinen Körper durchrollen, wenn das Flugzeug über die Rollbahn rollt, schneller wird und abhebt, die sind auch nicht zu sehen.

Ich bereite mich auf jeden Flug gewissenhaft vor. Denn ich werde sterben. Ich bin davon überzeugt, dass ich sterben werde, jedes Mal, wenn ich ein Flugzeug betrete, gehe ich mit der Überzeugung an Bord, das mein Leben in den nächsten Stunden enden wird. Ich verabschiede mich herzlichst von meinen Lieben, am Vorabend gehe ich gerne noch gut und teuer essen, denn ich werde am nächsten Tag sterben.

Beim Check-in beobachte ich die Mitreisenden. Kinder sind gut, viele Kinder erhöhen meine Chance zu überleben, ich denke dann immer, das kann das Schicksal nicht bringen, die haben doch noch nichts erlebt und soviel vor. Prominente Mitflieger sind schwierig. Würde Robbie Williams oder Madonna zum Beispiel mitfliegen, müsste ich mir ernsthaft überlegen, gar nicht einzusteigen, weil es das Schicksal geil findet, wirklich berühmte Musiker in der Blüte ihres Lebens vom Himmel zu holen. Ich fliege aber meistens nur mit B und C-Prominenz wie Ralph Morgenstern, Michael Schanze und Jenny Elvers-Hagen oder Schauspielern wo immer niemand den Namen weiß. Die sind dem Schicksal herzlich egal und wirken sich positiv auf meine Überlebenschancen aus.

Wenn das Flugzeug startet, starre ich in meine Zeitung. Ich lese nicht wirklich. Ich lese einzelne Wörter immer wieder, während der Schub mich in den Sitz presst. Wenn das Flugzeug aufsteigt und die erste Kurve macht, wellen sich die Ränder meiner Zeitung. Ist die Flughöhe erreicht, geht die Atemnot langsam zurück, ich kann jetzt ganze Sätze am Stück lesen. Inhalte wiedergeben ist schwierig.

Wenn das Essen kommt, bin ich sehr dankbar. Essen kann ich, hab ich gelernt. Köstlich mundet das kalte, zähe Brötchen, die steinharte Butter, die 60 g paniertes Hähnchenbrustfilet mit eisgekühltem Kartoffelsalat, der bröselig-trockene Muffin. Ich bin beschäftigt und habe einige Minuten Pause, mir zu überlegen, warum Tonnen von Metall fliegen können, ob der Pilot streit mit seiner Frau hatte, eine schlechte Nacht, eine zu gute und lange Nacht. Auch mache ich mir eine innerliche Kosten-Nutzen-Rechnung. Zwei Wochen Urlaub mit der Liebsten, dafür sterbe ich lieber, als für irgendein Zwei-Tage-Fotoshooting für einen Kunden. Das wäre wirklich ärgerlich. So was denke ich, bevor ich sterben werde. Bei der Landung. Das Flugzeug wird aufsetzen, die Vorderachse brechen, wir werden nicht schlingern, nein, wir werden uns überschlagen, die Nase touchiert die Landebahn, der Rumpf hebt sich, das Flugzeug überschlägt sich, mein Leben verglüht im Feuerball.

Nach der Landung steige ich ganz souverän aus und sehe dankbar den Kindern an den Gepäckbändern beim Toben zu. Diesmal hatte ich einfach nur unverschämtes Glück. Ich nehme mir vor, in den nächsten Tagen ein gute Zeit zu haben, denn es sind meine letzten Tage auf Erden, denn ich werde sterben. Beim Rückflug. Garantiert.

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Samstag, 26. März 2005
Osterlamm, später, Beck Hansen und das Glück.

Es ist spät geworden. Den ganzen Tag haben wir renoviert, die Liebste zieht jetzt zu mir, wir haben immer noch keine passende Wohnung gefunden und sie muss raus. Acht Stunden haben wir gestrichen, 80 qm, Dachgeschoss, verwinkelt. Balken. Schrägen. Das Abkleben geht mir zu lange, ich streich dann mal los, schnell geht das, bin selbst überrascht, mein Schwippschwager nennt mich:
Neubaustreicher. Schönes, neues Wort.

Um zwanzig vor Acht in den örtlichen Supermarkt, noch drei einsamen Lammkeulen frieren auf Metall, Neuseeland, das geht, dazu Kartoffeln, Tomaten, Bohnen. Kräuter stehen im Garten, Knoblauch hab ich noch, Wein auch. Eigentlich wollten wir Essen gehen, dazu sind wir zu müde. Zum Kochen bin ich nie zu müde, außerdem ist Ostern, ich will ein Osterlamm. Wir werden nicht vor halb Elf essen können, aber es ist Ostern, ich will ein Osterlamm.

Auf der Rückfahrt nach Hamburg kriechen die Osterfeuer durch die Lüftung ins Auto. Die Lampen an der geschwungenen Autobahnauffahrt werfen einen orangefarbenen Osterfeuer-Qualm-Vorhang, wie in Christo nicht feiner hätte weben können. Solche Augenblicke festhalten.

Im Auto singt Beck. Die neue Platte „Guero“. Die Musikpresse schreibt so Zeug wie: „ach endlich, ganz der Alte, nach der stillen „Sea Change“!“ Cool und groovy steht auf dem Aufkleber, auf der CD-Hülle. Hat sich die NY Times ausgedacht und Geffen aufgeklebt. Blödsinn. Zwei Kracher, der Rest sind feinste, unendliche Loops, ganz unaufgeregt, warme Collagen aus zartem Latin, zurückhaltendem Hip-Hop, selbst die Slide-Guitars atmen sanft über dezentem Electro. Und über allem Beck Hansens Stimme, klar und schön. Erwähnte ich, dass Beck Gott ist, mein Gott bis ans Ende meiner Tage und immer schon? Jetzt wissen Sie´s.

Und Guero ist wahrscheinlich seine beste Platte bislang. Ich bin mir nicht sicher. Ich finde das noch raus.

Die Liebste kuckt Dirty Dancing im Fernsehen, das Lamm schmort in der Röhre und es duftet wahnsinnig gut. Ich trinke einen weichen Rotwein, trotzdem mit Charakter und Tabac und Cacao und einem Hauch Vanille und leisem Holz. Und Beck singt. Und ich bin gerade sehr glücklich und das musste ich gerade aufschreiben und in die Welt hinaus posaunen.

Ich wünsch ein schönes Osterfest.

..................................riiiiiitschhhhschhh.

http://www.beck.com/

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Freitag, 25. März 2005
Nur mal ganz kurz: überflüssige Feiertage die schlechte Laune machen

Es muss mal gesagt werden, der depressive Karfreitag, sowie sein schlecht gelaunter Bruder Buß und Bet-Tag gehören wirklich abgeschafft. Ich will ja hier niemanden religiöse Gefühle verletzen und vom wirtschaftlichen Schaden soll auch nicht die Rede sein, aber ich finde diese beiden "Feier"-Tag schlagen echt aufs Gemüt. Niemand feiert, totenstille und ich glaube, seit Anbeginn aller Zeitrechnung verzeichnen diese beiden Tag die Wetter-Eintragung: "bewölkt, mit leichten Nieselschauern, örtlich regnets wie Sau und es ist überall arschekalt."

Das spannendste an Karfreitag (althochdeutschen "chara", was soviel wie "Wehklage", "Trauer" oder "in stiller Trauer" bedeutet) war für mich, als man mir im Alter von sechs Jahren erzählte, die Jungfrau Maria Statue auf dem Maria-Brunnen in Fulda drehe sich zur Todesstunde Jesu, am Karfreitag um 17:00 Uhr, einmal um die eigene Achse. Leider wurde mir ein Besuch des Brunnens zur Tatzeit stets verweigert. Kinderverarschen geht gar nicht.

In der Jugend wurde es auch nicht besser. Mit Taschenlampe und Walkie-Talkie bewaffnet, hockten wir in der Nacht zu Karfreitag frierend im Gebüsch und beobachteten die Zufahrtsstrasse zur Kleinstadt-Disko.

Tanzverrrrbot!

Nährte sich Polizei gaben wir Alarm und in der Disko wurde die Musik ausgeschaltet bis der Peterwagen ausser Sichtweite war. Stundenlohn 5 Mark.

Später habe ich auf dem Kiez selbst Platten aufgelegt, auch Karfreitag, man konnte eine Feiertagskonzession erkaufen, bei der Stadt und nicht bei der Kirche und für ein wenig mehr Geld als 5 Mark. Saubande, verlogene! Da können wir ja auch gleich die Kopftuchpauschale einführen, Zehnerkarte für muslimische Feiertage, oder Jahresabo für Hardliner.

So, jetzt gehts mir schon besser. Ich werde den Tag mit lautem Abspielen alter Punkplatten verbringen und wenn irgend jemand bitte mal um 17:00 Uhr in Fulda am Marienbrunnen vorbeischauen könnte, vielleicht mit Camcorder? Fänd ich prima. Läßt mir ja keine Ruhe.

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Mittwoch, 23. März 2005
Mixed Pickles 1

Gathmanns Band droht mit Auftritt: „und zwar zu 100% akustisch!“. Da geh ich nicht hin, ich meine, es ist doch bitte irgendwann auch mal gut mit dieser verinnerlichten Leisezupferei. Ich will richtige Gitarren, die laut sind und verstärkt, ich möchte ordentlich Electro-Bumms, bitte spätestens im Sommer. Gestern Abend Video kucken, da spielte im Hintergrund „Mad World“ in dieser Akustik-Version. Prompt hab ich ne Fliege im Auge. In beiden Augen. Bitte mehr Strom.

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Blog-Lesen ist auch manchmal Beziehungsgefährdend. In einem Blog lese ich von Menschen die vom Ficken „Arschmuskelkater“ bekommen haben. Ich das gleich der Liebsten erzählt. Hätte ich mal nicht machen sollen.

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Ist ja auch warm jetzt. Ständig schwitze ich im Wintermantel. Die anderen Jacken sind zu dünn. „Der März ist ein Kindstöter“ hat meine Oma immer gesagt.

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Ostermontag soll ich nach Mallorca. „Da ist schon Frühling“, sagt die Redaktion, „wir fotografieren dann da die Grillparty fürs Sommerheft“. Und dass ich bitte vorher zum Friseur soll, weil sie mich „auch mal unscharf in den Hintergrund stellen wollen und so geht das ja gar nicht.“ Anruf beim Friseur, vor Ostern geht nix mehr. Wenn Sie also diesen Sommer, in einer Foodzeitschrift, auf einem Foto einer Grillparty, im Hintergrund, leicht unscharf den Chef einer osteuropäischen Schlepperbande sehen, mit langem, strähnig-fettigem Haar, das bin dann ich.

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Die einzigen Freunde die ich noch habe, sind stäääändig im Urlaub. Frier ich die österliche Lammkeule halt wieder ein. Brate sechs Lammkoteletts für die Liebste und mich und dann probier ich das mal aus, mit diesem Arschmuskelkater. Soll ja toll sein.

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Frühlingswäsche für mein Auto. 8,57 €.
Mein Auto ist rot.

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Herr Svensson hat mir die neue Asian Dub Foundation geschenkt. Würde man die akustisch einspielen, bliebe nix mehr übrig. Gute Platte! Geht doch.

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Freitag, 18. März 2005
Schüler Paulsen kehrt zurück.

Ich bin viel zu früh losgefahren. Aber ich möchte nicht zu spät kommen, zu meinem ersten Schultag seit fast zwanzig Jahren. Es ist zehn Uhr morgens, ich fahre durchs graue Holsteiner Land, vorbei an abgeernteten Grünkohlfeldern und ich merke das meine Hände am Lenkrad schwitzen. Meine Hände schwitzen nie. Muss die Aufregung sein. Ich biege von der Autobahn ab, die Karte auf dem Beifahrersitz, hinein ins Hinterland. Ich muss an meinen letzten Schultag denken, damals vor fast zwanzig Jahren, in der elften Klasse:

Der Schlag traf Herrn Marten unvermittelt und mit einer solchen Wucht am Kopf, dass es ihm die Füße wegriss. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er fast waagerecht in der Luft zu schweben, dann griff die Schwerkraft nach ihm, er stürzte hart und ungeschützt, kleine Kieselsteine gruben sich in seine Stirn, dann lag er einfach da, auf dem schwarzen Asphalt des Pausenhofes, bewegte sich nicht mehr.

Ich ließ die Waffe sinken, meine lederne Schultasche, gefüllt mit dem großen Dierke Weltatlas, Büchern für Mathematik, Physik und Englisch. Der Duden steckte auch in der Tasche. Mit der geballten Schlagkraft eines mittelprächtigen Allgemeinwissens hatte ich unseren Klassenlehrer einfach weggewischt.

Es hatte Kohlrouladen gegeben und ich hatte auf ihn gewartet, draußen vor dem großen Speisesaal. Klein gemacht hatte ich mich, gebettelt, ob ich nicht an einem anderen Tag nachsitzen könnte, nur bitte heute nicht, heute war Mittwoch und jeden Mittwochnachmittag war Koch-AG, darauf freute ich mich von Mittwoch bis Mittwoch. In der Schulküche durften wir braten, schmoren, dünsten und frittieren, schmecken, riechen und entdecken. Immer Mittwochs öffnete sich eine Küchentür und die Möglichkeit, die Internatskost zu vergessen, diese lieblosen, immergleichen, sich monatlich wiederholenden Variationen von Kohlehydraten mit Fett, immer grau, immer grauenhaft und immer zu wenig. Zweihundert hungrige Jungen drückten sich jeden Mittag in den großen Speisesaal des christlichen Internates, gab es Schnitzel hatten wir schon zum Gebet die Gabeln in der Hand und das größte Schnitzel im Visier. `Herr hab Dank für Speis und Trank` betete der Schulleiter vor jeder Mahlzeit mit uns. Doch nur Mittwoch war der Tag des Herrn.

Klein hatte ich mich gemacht. Gebettelt. Dann hatte Herr Marten angefangen zu brüllen. Immer näher war er gekommen, zu nah, brüllte aus geröteter Zornesfratze, was ich mir erlaube, du kommst, das sag ich dir, er brüllte mit geschwollenen Adern, ganz nah kam er, beinahe berührten sich schon unsere Nasen, ich konnte seine Zahnkronen sehen, dazwischen kleine Fetzten von Kohl und Hack und aus dem brüllenden Maul roch es heraus, nach Kohlrouladen, kaltem Rauch, und fauligem Hass. Ich wischte das Gesicht weg. Ich musste das tun.

Diese Geschichte werde ich heute sicher nicht erzählen, denke ich, als ich das Ortsschild der kleinen Stadt passiere, die nur aus Baumschulen und Spielhallen zu bestehen scheint. Zwanzig Baumschulen und acht Spielhallen später parke ich den Wagen vor dem riesigen Backsteingebäude. Herzklopfen, ich wische mir die Hände an der Anzughose ab und bleibe einfach im Wagen sitzen. Ich habe noch zwanzig Minuten Zeit. Zeit bis die allerhärteste Lesung meines Lebens beginnt.
Denn meine Zuhörer werden heute Schüler sein. 24 junge Menschen im Alter von 17-18 Jahren, Grundkurs Deutsch.

Ich wurde engagiert, den jungen Menschen neunzig Minuten lang zu erzählen, dass es schwerlich ein Leben ohne die literarischen Klassiker gäbe, aber mit Sicherheit ein buntes literarisches Leben nach den Klassikern. Literatur rockt! Was geht auf Deutschen Lesebühnen, was ist eigentlich ein Poetry-Slam und gibt es Literatur im Internet? Dazwischen zur Auflockerung ein paar eigene Texte lesen. So hatte der junge Lehrer mir das erklärt und auch gleich ein paar meiner dringenden Fragen beantwortet: nein, die Schüler wüssten nicht was ein Poetry-Slam ist. Wiedervereinigung? Schwieriges Thema weil Geschichte an Deutschen Gymnasien mit dem zweiten Weltkrieg endet.
Harry Rowohlt? Ja, aus der Lindenstrasse. Robert Gernhardt? Unbedingt erklären! Ich wage einen letzten Versuch: Max Goldt und Stuckrad-Barre ( Barre zum in die Pfanne hauen)? Nee, lieber erklären. Das Gespräch endete mit der Bestätigung meiner Vermutung, „ja, ich sei für die Schüler ein alter Sack, ein echter Erwachsener.“

Ich mache mir Sorgen.

Das Lehrerzimmer. Der nächste Schock. Es ist das erste Lehrerzimmer, dass ich je in meinem Leben betreten habe und es sieht aus als sei auf einem Kindergeburtstag eine Bombe hoch gegangen. 70 Lehre, Erziehungsbeauftragte für 1400 Schüler aus dem gesamten Umland, hausen in ihrem eigenen Dreck und der Deutschlehrer flüstert mir zu, er habe die Befürchtung, dass „hier schon so manches langsam kompostiert.“ Erschreckender als diese Müllhalde sind nur noch ihre Bewohner. Ich erkenne viel meiner alten Lehrer wieder, obwohl meine Schule 900 km von hier entfernt stand. Sitzen da mit verkniffenen Minen, schütten lauwarmen Filterkaffe in sich hinein, entfernen mit aufgebogenen Büroklammern Wollmäuse von ihren ausgeleierten, graubraunen Pullovern und haben Angst vor der nächsten Stunde. Na, da haben wir wenigstens eine Sache gemeinsam.
Ich hatte gedacht, die Wachablösung sei schon längst erfolgt, aber nein, da sitzen sie alle immer noch und nur ganz in der Ecke ist ein Tisch mit jungen Lehrern meines Alters. Hier wird gelacht, ich bekomme Filterkaffee in einer „Santa Pauli“- Kaffeetasse mit weihnachtlichem Totenkopf, und aufmunternde Worte mit auf den Weg.

In der kleinen Bibliothek ist ein kleiner Lesetisch für mich aufgebaut und ein Glas Wasser. Es riecht nach Papier, Orangenschalen, grau-braunem-Pullover-Schweiß. Und ich kann mich selbst riechen. Mein Anzug stinkt nach Rauch. Und überhaupt sehe ich Scheiße aus. Ich müsste seit Wochen zum Friseur, keine Zeit gehabt, jetzt stehen die Haare in alle Richtungen und ich stinke nach Rauch. Wenn ich jetzt noch besoffen wäre, dann könnte das was werden hier.

Da kommen sie. Wer zu spät kommt den bestraft das Leben, wilde Keilerei um die hintersten Plätze, die Raucher bekommen die erste Reihe. Stinke ich wenigstens nicht mehr alleine. Ich beginne meinen Vortrag, lese zum warm werden einen kleinen Text, der immer gut funktioniert. In der ersten Reihe nickt ein junger Mann weg. Gelacht wird wenig. Skeptische Blicke, Totenstille.

Nach zwanzig Minuten habe ich sie. So ein bisschen. Sie hören zu, stellen Fragen, sind aufmerksam, der Lehrer nickt zufrieden. Gegen Ende der ersten Stunde schenken mir die jungen Mädchen hier und da ein Lächeln, beugen sich nach vorn, um besser hören zu können. Das freut einen alten Sack wie mich und ich überlege ob die Frisur vielleicht doch nicht so doof ist. Die Jungs lümmeln jetzt schon viel entspannter in den Stühlen, der Schläfer ist auch wieder wach.

Es gongt zur ersten Pause. Lief doch prima. Nach der Pause, noch mal eine Fragerunde.

„Noch Fragen zum ersten Teil? Ja, Sie!“

„Äh, ich wollt mal fragen was für eine Schulausbildung sie eigentlich haben?“

Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Mist.

„Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet, ich äh....öh...mmh...“

Mir wird ein bisschen heiß, ich muss schnell antworten sonst verliere ich das Vertrauen aus der ersten Stunde, jetzt nicht rumdrucksen. Mir fällt absolut nichts ein. Also tu ich, was ich immer für das Beste halte, obwohl ich mir in diesem Fall nicht so sicher bin, ich habe aber keine Zeit mehr zum Nachdenken. Ich sage die Wahrheit. Ich sitze in der Bibliothek eines Gymnasiums in Schleswig Holstein und erzähle 24 angehenden Abiturienten und ihrem Klassenlehrer, wie ich damals in der elften Klasse meinen Klassenlehre mit der Schultasche weg gehauen habe und so die Schulzeit schwungvoll und ohne Abschluss beendete.

Die zweite Stunde wurde ein Riesenerfolg und verging wie im Flug.

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