Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
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Mittwoch, 7. Dezember 2005
Sille kauft nen Weihnachtsbaum
herr paulsen
09:01h
„Mensch Sille, was machst du denn ?“, frage ich Sille, die eigentlich Silke Bischoff heißt, aber weil Silke Bischoff auch der Name einer toten Geisel aus Gladbeck und zudem der Name einer, leider immer noch nicht gänzlich in Vergessenheit geratenen, Düster-Musikantenstadel-Band ist, sagen alle Sille. Sille sieht nicht gut aus, wie sie da so liegt, Bein in Gips, Hals in Trauma-Schlinge, blaue Augen außen rum und das Gesicht zerkratzt. Ich lege die mitgebrachte Schokolade, einen Stapel Frauenzeitschriften und die American-Spirit-Zigaretten auf den Nachttisch, neben dem Krankenbett. „Deine Bestellung“, sage ich. Im Grunde genommen war es eine blöde Idee. Als Heiner sich, kurz nach der feierlichen Entzündung der ersten Kerze auf dem gemeinsam ausgesuchten Adventskranz, verabschiedet hatte, von Sille und der gemeinsamen Beziehung, musste sie umdenken. Es ist schon so nicht leicht verlassen zu werden, weil der Herr seine Kerze lieber bei einer Anderen anzünden möchte, das aber in der Vorweihnachtszeit zu tun, das ist schon seelische Grausamkeit und es ging Sille nicht gut, plötzlich alleine, zwischen grauen Vorweihnachtstagen und trockenen Lebkuchen. Letztes Wochenende saß Sille zusammen mit einer Flasche Wein am Küchentisch, sah dem Adventskranz beim nadeln zu und hatte die blöde Idee. Bald wäre also Weihnachten, ohne Heiner, ohne Baum. Ersteres war schon schlimm genug, aber ein Fest ohne Baum, also das, fand Sille, ginge irgendwie nicht. Die letzten zwei Jahre hatte Heiner immer den Baum geholt. Nur wo? Heiner war immer sehr stolz darauf gewesen, einen Baum aus ökologischem Anbau angeschleppt zu haben. Auf der Internetseite von Robin Wood hatte er damals die total politisch korrekte Baumschule aufgetan. Sille schenkte sich noch ein Glas Wein ein und fuhr den Rechner hoch. Unglaublich, wie viele ökologisch angebaute Weihnachtsbäume wuchsen, nur irgendwie nicht in ihrer Gegend. Wahrscheinlich hatte Heiner, die Lügenfresse, schon damals....Sille fand die Gelben Seiten, telefonierte ein bisschen, studierte die Strassenkarte und setzte sich ins Auto. Hin ging super. Der Baumverkäufer war nett, weigerte sich dann aber, Sille die gewünschte Nordmanntanne auszuhändigen, die sei doch etwas zu groß für ihren Twingo. Sille sah sich die Nordmanntanne an und ihr Auto und zusammen mit dem netten Baumverkäufer suchte sie sich was Passendes aus. Ihr schien das erwählte Tännchen ein wenig zu klein, der Twingo war aber nach dem Verladen des Baumes üppig gefüllt mit Tannengrün und der Baumverkäufer spendierte noch ein Stück Strick, weil die Kofferaumklappe sich nicht mehr schließen ließ. Sille zwängte sich auf den Fahrersitz, schob Tannengrün und Lockenpracht aus dem Gesichtsfeld und fuhr los. Es war schon dunkel, es schneeregnete leicht, als Sille zugeben musste, dass sie sich verfahren hatte. Schnurgerade lief die Strasse durch einen dichten Tannenwald, kein Autobahnschild zu sehen. Aber auch kein anderes Auto. Kein Gegenverkehr. Sille wagte den Tauchgang ins Tannengrün und fischte nach der Karte, die irgendwo auf dem Beifahrersitz unter dem Weihnachtsbaum liegen musste. Beim Auftauchen passierte es dann. Sille blieb mit ihrer Lockenpracht im Baum hängen, es tat sehr weh, Sille griff mit beiden Händen in den Baum, Haarbefreiungskommando, das Auto schlingerte, Sille trat erschreckt die Bremse durch, der Wagen hielt, der Tannenbaum im Inneren des Wagens hielt nicht und mit einem dumpfen Knacken schlug der Baumstumpf in die Frontscheibe. Was sagt man da? Draußen vor dem Krankenhaus treffe ich leider Heiner. Mist, denke ich, das war jetzt echt zu nett von mir. ... Link Montag, 5. Dezember 2005
Mal Radio hören! Mit Praschl, Noltensmeier, Herrn Svensson und mir.
herr paulsen
09:28h
Zu hören sind Live-Mitschnitte der Lesung KAFFEE.SATZ.LESEN 24 mit Jürgen Noltensmeier und Peter Praschl sowie ein Interview mit Herrn Svensson und mir. Wir erzählen wie alles begann, was noch kommen soll und von allem was dazwischen liegt. Reinhören: ... Link Samstag, 3. Dezember 2005
"Wird Sie geköpft?". Michael Naumann und Gerhard Henschel denken gerade rechtzeitig über "BILD" nach.
herr paulsen
10:08h
Sich über die Bildzeitung aufzuregen, ist in etwa so aufregend wie die Aufregung über den immer schlechter werdenden Deutschen Sommer, die Bahn oder den drohenden Weihnachtsstress inklusive eingebauter Konsumkritik. Es ist aus der Mode gekommen, hoffnungslos altmodisch, sich über die BILD aufzuregen. Bestenfalls liest man das Schmierblatt einfach nicht oder man hat sich dran gewöhnt. So sehr dran gewöhnt, dass man nicht mal mehr merkt wie die BILD täglich Schamgrenzen und Menschenrechte verletzt. Oder man macht es wie der, von mir ansonsten geschätzte Wolfgang Joop, der gestern Nacht in einer Talkshow sagte, er sei süchtig nach BILD, das sei einfach „camp“, immer ein bisschen neben der Spur eben. Und so gesehen unterhaltsam. Weia. Derzeit überzieht die BILD Deutschland flächen deckend mit einer vermeintlich BILD-feindlichen Kampagne. Der "Bund der bestochenen Schiedsrichter" oder der "Bund der korrupten Politiker" rufen auf zum Boykott der "Bild"-Zeitung. Oliver Voss, Mitarbeiter der Werbeagentur Jung von Matt sagt zur perfiden Werbekampagne aus dem eigenem Haus : "Das peilen die Menschen schon – die reimen sich das selbst zusammen." Die wirkliche, neue BILD-Antikampagen, wird den durchschnittlichen BILD-Leser nicht erreichen, denn wer (außer vielleicht Herrn Wolfgang-Camp-Joop) list schon neben dem rot-schwarzen Erbrechen noch die ZEIT. Dort hat sich diese Woche Michael Naumann Gedanken gemacht über eine Zeitung, die mit der Schlagzeile „Wird sie geköpft?“ über die entführte Susanne Osthoff „berichtet“. Es ist Wochenende. Nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie mal diese beiden Artikel. Linken sie zu diesen Artikeln. Erinnern Sie sich und Ihre Leser mal daran, wie höchst modern und wichtig eine Kritik an der BILD und die Aufregung über BILD doch ist, gerade heute. Ruchlosigkeit, millionenfach Von Tag zu Tag wird´s schlimmer. ... Link
Herr Paulsen geht aus: Red, Hot & Blog
herr paulsen
08:58h
Am dritten Abend meiner dieswöchigen Literatour würde ich sicher schwächeln, dachte ich, als ich mich aufmachte zum „Red Hot & Blog“. Erschwerend plagte mich eine müdigkeitsbedingte Menschenscheu verknüpft mit der nur bedingt vohandenen Lust auf Gespräch und Zerstreuung sowie ein dicker Hangover aus der vergangenen Nacht. Das ist nicht gut so aus dem Haus zu gehen. Ich ging trotzdem und alles wurde wunderbar! Ein grandioser Abend den Lyssa und ihre Mitstreiter am Donnerstag ihren zahlreichen Gästen präsentierten. Feinste Musik von Hebig auf die Ohren, Prickelndes im Glas, elegantes Ambiente, ach herrlich es ging mir gleich viel besser. Und das mit dem Reden blieb auch nicht lange aus, Mc Winkel durchbrach als Erster ganz locker mein schamiges Schweige-Gelübte. Mit dem Mann, der mir gestern durch einem einzigen Link in seinem Blog 256 Menschen in meinen Blog schickte, lässt es sich ganz vorzüglich reden, ich habe mich sehr gefreut ihn endlich kenne zu lernen und da ist noch viel zu reden! Die Lesung war großartig, die Mischung stimmte, eine runde, höchst unterhaltsame und auch lehrreiche Sache. Eric, zum Beispiel, entführte mich in die mir fremde Welt der Urologie, ich hab zwar sehr gelacht, jetzt grüble ich aber leider schon seit zwei Tagen auf Prostata-Krebs rum.
Lyssa las wie gewohnt pointiert lustige Geschichten aus fremden Welten wie Afrika oder Kassel. Und ich habe ihr dabei nicht in den Ausschnitt gekuckt weil ein Sitzriese mir die Sicht versperrte. Ina Bruchlos war schon zweimal zu Gast bei der hauseigenen Leserreihe Kaffee.Satz.Lesen, ich habe aber gestern Abend wieder mal festgestellt, dass ich ihr immer zuhören könnte. Und obwohl ich auch das Buch längst gelesen habe, lachte ich dem Sitzriesen den Nacken nass. Meinen Heten-Horitzont erweiterten dann der Autor Bernhard Rosenkranz und der Herausgeber des Buches „Hamburg auf anderen Wegen“, Gottfried Lorenz. Mit der Geschichte des schwulen Hamburgs wäre ich ohne diese Veranstaltung wohl nicht so ohne weiteres in Berührung gekommen. Eine hochinteressante, traurige, wütende und sehr komische Geschichte. Klasse! Nach der Lesung unterhielt ich mich lange und angeregt mit Merlix und seiner Herzdame, geradezu Plaudertaschig machten mich diese beiden herzlichen Menschen. Danke! Sorgen machte sich an diesem Abend meine immer charmante Begleitung Isabo. Sorgen, dass unser permanent gemeinsames Auftreten falsche Schlüsse zulassen könnte. Dabei ist es doch ganz einfach: die Liebste und der lustige Mann müssen Arbeiten, wir machen in Literatur! Da ich eine faule Verlink-Sau bin, gibt es alle Links zum Thema, wie immer unter Links zum Thema. ..............................................ratsch. Links zum Thema: Red, Hot & Blog: Lyssa: Hebig: Mc Winkel: Eric Hegmann: Ina Bruchlos ihr Buch: Hamburg auf anderen Wegen: Merlix: Desideria: Isabo: Kaffee.Satz.Lesen. ... Link Mittwoch, 30. November 2005
Zwei Liebespaare bei Dean & Deluca in New York
herr paulsen
15:27h
Diese zwei wunderbaren Menschen da oben, die waren neulich mal zum Knutschen in New York. Zwischendurch sind die Beiden meinem Rat gefolgt und haben Dean & Deluca besucht, einen sensationellen Gourmet-Laden. Wenn es was zu essen ist, gibt es das bei Dean & Deluca. Alleine der Brotstand bietet täglich 400 verschiedene ofenfrische Brotsorten und das ist eben nur der Brotstand. Ich war ein einziges Mal in New York und habe sechs Stunden in diesem Laden verbracht. Die wunderbaren Liebenden legten dann dort auch eine Paulsen-Gedenk-Minute ein und haben mir was mitgebracht ! : Das sind Topflappen. Das sind nicht irgendwelche Topflappen, das sind Topflappen von Dean & Deluca. Sie sind aus Leder! Sie sehen geil aus! Sie fühlen sich unglaublich gut an. Ich werde sie niemals benutzen. Ich werde höchstens mal meinen Essensgästen damit zuwinken, anfassen ist nicht. Das sind meine Topflappen. Als ich vor Jahren Dean & Deluca besuchte, war nicht nur die Auswahl der Delikatessen bemerkenswert, es war wohl so in der vierten Stunde meines Aufenthalts als ich plötzlich SIE bemerkte. Eine unglaubliche Frau! Sie stand am Marmeladenregal und studierte die Gläser. Die wilden schwarzen Strähnen ihrer Haare pustete sie sich dabei alle zehn Sekunden aus dem Gesicht. Hohe Wangen, Mandelaugen, schwarzer Kajal, volle Lippen, schwarzer Lippenstift. Sie trug ein Ramones-T-Shirt, dass überall viel zu klein geraten schien, dazu einen kurzen Wildlederrock der ihre langen, braunen Beine sehr schön betonte. Die winzigen Füße steckten in einem Hauch von Riemchen die sich bis zu den samtenen Kniekehlen empor schlängelten. Ich war begeistert. Dann bog ihr Kerl um die Ecke. Ach Du liebe Güte! Ein langes, sehniges Elend, der Typ. Mit eingefallenen Wangen und müde hängenden Spaghettihaaren die ewig kein Shampoo mehr gesehen hatten, sein T-Shirt dafür umso verwaschener und mit Mottenfraß verziert. Seine dürren Beinchen steckten in entsetzlich engen Lederhosen, die ein ebenso entsetzlicher Nietengürtel an den spitzen Beckenknochen fest hielt. Jetzt knutschten die beiden auch noch ausgiebig, ich konnte fast nicht hin sehen. Wie bitte kommt so ein Wrack zu einer solchen Perle? Gut, also mit viel Phantasie konnte man dem Typ zu Gute halten, dass er ganz entfernt, dem von mir abgöttisch verehrten Iggy Pop ähnelte, aber sonst, ich weiß es nicht. Dann ging alles sehr schnell. Während ich die Liebenden noch hypnotisiert anstarrte, löste sich das lange Elend aus den Armen der Traumfrau, griff ein Glas Lemon Curd aus dem Regal und bemerkt dann mich. Den dreist glotzenden, mitteleuropäischen Vollspacken der wie angenagelt im Marmeladengang stand. Der Typ sah mir genau in die Augen, ich ihm entgeistert ins vernarbte Gesicht. „Ohhh, ah, äh“, stammelte ich, „Mr. äh, Pop, äh, I, äh..“
......................................rock! Links zum Thema: Dean & Deluca Iggy Pop ... Link Dienstag, 29. November 2005
Literatour
herr paulsen
10:17h
Das wird ja immer besser mit meiner Woche der Zwangsarbeitslosigkeit! Gestern habe ich im Park die Raben gefütterte, andere Vögel waren leider nicht da. Später habe ich so rumgedacht und da ist mir aufgefallen, das ich ja jetzt nicht nur Tagesfreizeit habe, sondern mir auch sämtliche Nächte zur freien Verfügung stehen. Wer nicht schon früh am Morgen, ordentlich gekämmt und frisch geduscht freundlich sein muss, dem gehört die Nacht! Tanzen war ich Samstag, da hab ich alles gegeben, das muss ich nicht schon wieder haben, der Muskelkater schmerzt noch stark. Bleibt die Kultur. Kurz in örtlichen Programmheftchen geblättert und schon ist in den nächsten Tagen für nächtliche Zerstreuung bestens gesorgt. Heute Abend zum Beispiel werde ich zum ersten Mal seit über einem Jahr auf dem Hamburger Poetry Slam auftreten. Ich ahne schon jetzt, dass das die zweite schlechte Idee in dieser Woche ist, gleich nach der Sache mit den alten Tagebüchern. Der Slam findet im Molotow statt, der zwar vorgibt ein Club zu sein, in Wirklichkeit aber eine finnische Sauna , in der sich überwiegend minderjährige Dichter, bei Temperaturen um die 100 Grad einen erbitterten Wettstreit um drei farbige Pferdeschleifen liefern. Das muss man sich nicht antun, ich schon, ich hab ja Zeit! Mittwoch wird dann im Literaturhaus der Literaturpreis der Stadt Hamburg verliehen. Da muss man nicht hin, ich schon, ich hab ja Zeit! Da sitzen verbitterte Schreiber, die auch dieses Jahr nichts gewonnen haben, lauschen im festlich illuminierten Saal den Siegertexten und beweinen ihr unerkanntes Genie beim von der Kulturbehörde gesponserten Wein. Sonst sind noch die Preisträger da, die übrigen Gäste „arbeiten im Literaturbetrieb“. Ich feige Sau hab natürlich nichts eingereicht, ich hab gut trinken. Der Wein ist wirklich jedes Jahr von Kennerhand ausgewählt und ich greif immer zu, wenn die Kulturbehörde was ausgibt! Verdienen muss man sich den Wein trotzdem, der Veranstalter droht: Die Lesung, auf die diese Woche bitte auch Menschen gehen sollten die schon früh am Morgen ordentlich gekämmt und frisch geduscht freundlich sein müssen, die findet am Donnerstag statt. Da ist Weltaidstag und Lyssa ruft zum „red hot blog“ zugunsten der Aidshilfe. Vorgelesen wird ab 20 Uhr im Weißen Raum in der Poolstraße 21 und zwar von Ina Bruchlos, Eric Hegmann und der Gastgeberin Lyssa selbst. Ich liebe die Texte von Ina Bruchlos und Lyssa, sicher werde ich auch Eric in mein Herz schließen und das sollten Sie, liebe Leser/innen auch. Zumal Hamburg in diesem Jahr sehr stark klar gemacht hat, das Aids „nicht mehr so das Thema“ ist: für die großen Aids-Gala wurden im Vorverkauf genau 34 Karten verkauft, die Gala findet also dieses Jahr schon mal nicht statt. Ausführliche Infos zu red hot blog gibt es hier. So und ich mache jetzt...äh..den Balkon winterfest! ... Link Montag, 28. November 2005
Tagebuch eines anderen
herr paulsen
14:56h
Ich bin diese Woche arbeitslos. Eine Agentur hatte mich für die gesamte Woche gebucht und den Fototermin dann am vergangenen Freitag komplett abgesagt. Wenn man arbeitslos ist, kommt man schnell auf dumme Gedanken. Und heute morgen, ja, da bin ich auf den Dachboden gekrochen und habe meine alten Tagebücher in die Wohnung geschleppt. Ich hab ja Zeit! Tagebücher? Ja, es geht ein Gespenst um in Blogland, das Gespenst der alten Tagebücher. Angefangen hat es meines Wissens bei Gaga. Nachgezogen hat Kid37 und in den dortigen Comments werden schon lautstark Befürchtungen geäußert, bezüglich der Wertigkeit alter Tagebücher. Auch Lisa9 tat sich schwer mit ihren alten Tagebüchern. Den Blog-Vorläufern auf Papier wird Peinlichkeit unterstellt, die Nachwelt wartet nicht auf pubertäre Ergüsse. Isabo geht sogar so weit, ihr Gesamtwerk nach kurzem Studium zum Altpapier zu tragen. Das kann doch so nicht sein, denke ich, erklimme die Dachkammer und kehre mit sechs gebundenen Tagebüchern zum Schreibtisch zurück. Vier Stunden brauchte ich um mich durch mein Leben von 1984-1991 zu lesen. Alles doch seeehr ausführlich. Ich kenne den jungen Mann, der mir in den Büchern begegnet, ich verstehe ihn sogar. Aber ich hatte ihn im Laufe der Jahre vergessen. Jetzt begegnen wir uns wieder und er zeigt mir, wer ich mal war. Es beginnt mit der Internatszeit. Seitenlange Anklagen, ein „Schweinesystem“, vom „Staat im Staat“ ist da die Rede. Drastische Gewalt zwischen Schülern, erschütternd der Bericht über eine Folter, die der junge Mann über sich ergehen lassen musste. An eine Wand gestellt, wurde er von älteren Schülern erst mit Dart - Pfeilen beworfen, anschließend schlug man ihm mit Knöcheln so lange auf die Brust, bis ein flächen deckendes Hämatom entstanden war. Die Erzieher und Pädagogen ein Haufen Nichtskönner. Weggucker, die sich an einem simplen Strafsystem durch die Jahre hangeln. Irgendwann wehrt sich der junge Mann, schlägt einem älteren Mitschüler der ihn bedrohte zweimal kräftig ins Gesicht und brüllt den am Boden Liegenden an: „Leute wie du sitzen in zehn Jahren mit einem Pappschild in der Fußgängerzone. Wenn ich dich dann da sehe, mach ich Dich wieder fertig!“. In seinem Tagebuch vermerkt der junge Mann ein Gefühl der Genugtuung, schildert aber auch seine Überraschung. Ab jenem Moment, entwickelt sich der junge Mann zu einem gewaltbereiten Kotzbrocken, der alle drei Tage die Jugendbewegung wechselt, mal Punk, mal Rockabilly, bisschen Ska, bisschen Skin. Das neue Nena-Album findet er klasse, aber nur heimlich. Er singt in der Schulband, er dreht Filme mit der Film-AG, er eröffnet ein Wochenend-Kino für Nichtheimfahrer und wundert sich nicht, dass ihn trotzdem kaum jemand mag. Er hasst ja auch alle. Der Kotzbrocken beginnt eine Lehre. Dort lernt er, dass das Internatssystem im wirklichen Leben nicht funktioniert. Er merkt, dass Kochen seine Leidenschaft ist, er lernt nett zu sein oder zumindest so zu tun, er wird ein ausgeglichener junger Mann. Jetzt gibt es auch Frauen. Viele. Aber! Alle schwierig! Erst jetzt kommt, was zu erwarten war, pubertäre Gefühlswehen, gebrochene Herzen, Partys ohne Ende und kochen, kochen, kochen. Aber so richtig geil! Im letzten Buch, macht sich der junge Mann auf nach Berlin. In nur einem Jahr verwandelt er sich wieder in einen Kotzbrocken, behauptet, dass die Stadt das mit ihm macht, verwandelt sich körperlich in ein fettes Walross und bezweifelt, dass aus seinem Leben noch mal was wird. Hier enden die Aufzeichnungen. Gott sei Dank, denn der einsame Fettsack wird jetzt Dichter, schreibt für Publikum. Düster-verquastete Miniaturen, schwarz die Welt, durchzogen von hoffnungsfrohen Grautönen, schwerfällig ziehen sich pathetische Endlossätze, geklaut von Kafka und King, ein kruder Mix, ein betrübliches Schlamassel. Ich hatte den jungen Mann vergessen. Nein. Nicht wirklich. Ich glaube ich hatte den Kotzbrocken verdrängt, weil der doch mit mir nichts zu tun hat. In den Tagebüchern lese ich das Gegenteil. Peinlich? Nein, eher unangenehm. Die Tagebücher kommen jetzt sofort wieder auf den Dachboden. Was bleibt ist Dankbarkeit dafür, dass der junge Mann alles aufgeschrieben hat, um nicht in Vergessenheit zu geraten, dann irgendwann die Stadt gewechselt hat und das Leben, sich entschieden hat, ein anderer zu sein. Sonst wäre ich heute ein anderer. Und das wäre mir dann doch wirklich sehr peinlich. ... Link ... Nächste Seite
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