Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 16. Januar 2006
Mein kurzer Abend mit Jamie Oliver

Mein Beruf hat mich gänzlich im Griff. Auch Nachts koche ich wie ein Weltmeister, ich träume tatsächlich von der Zubereitung „neuer“ und „nie da gewesener“ Gerichte. Ich habe das Wiener Schnitzel erfunden, den Italienern Tirami Su beigebracht und, ach ja, Sushi war auch meine Idee. Unter der Dusche folgt die Ernüchterung. Immer wieder kehrend ist auch ein Traum in dem ich nach all den Jahren meinen Dienst in der Küche von Monsieur wieder antrete. Eine freudige Begeisterung erfasst mich, auch Monsieur ist glücklich mich wieder im Team zu haben. Ich bin sehr selbstbewußt in diesem Traum, schwungvoll werfe ich meinen Messerkoffer auf den Posten und mache mich an die Arbeit. Gleich kommen die Gäste, ich fange an alles vorzubereiten. Mit Monsieur gehe ich zuvor die Karte durch, mache Verbesserungsvorschläge, preise meine eigenen Kreationen an. Monsieur ist total begeistert und nickt zustimmend. Dann beginnen die Probleme. Egal welches Gericht ich zubereite, irgendwann stellt sich immer heraus, dass ein entscheidendes Produkt, wahlweise nicht vorhanden, bzw. total vergammelt ist. In jedem Fall ist das immer meine Schuld. Ich schwitze, versuche ganz kreativ auf die schnelle etwas anderes zu kochen, aber dann, siehe oben. Die ersten Bestellungen gehen ein, die Gäste warten, ich bekomme Panik, Monsieur sieht mich enttäuscht an. Ich konzentriere mich stark, löse mich in Luft auf, die Küche verliert an Konturen, alles verschwimmt, wird blass, dankbar wache ich auf. Manchmal erlöst mich auch das Klingeln des Weckers.

Ganz anders, wenn Wunschträume in Erfüllung gehen. Am vergangenen Wochenende war Jamie Oliver in Hamburg um den Start seiner neuen TV-Show auf RTLII bei einer Pressekonferenz anzukündigen. Da bin ich natürlich hin, ich habe noch einen gültigen Presseausweis. Später kam ich mit Jamie ins Gespräch, erzählte von meiner Kochlaufbahn, er kannte sogar einige der Küchenchefs unter denen ich gearbeitet hatte. Wir waren uns sympathisch, ich erfuhr, dass er erst Montag zurück fliegen würde und Sonntagabend noch nichts vorhabe. Manchmal mache ich einfach alles richtig. Ich lud Jamie zum gemeinsamen Kochen ein. Und er sagte zu! Sie können sich meine Überraschung nicht vorstellen, als er gestern Abend tatsächlich auf der Matte stand! Anfangs war es ein bisschen zäh, ich habe großen Respekt vor Jamie und war etwas schüchtern. Er erklärte mir aber er möge "private cooking" und schätze es sehr neue "normal people" kenne zu lernen. Er küsste die Liebste auf den Mund was mich kurz befremdete, aber, na ja, der Mann hat Geschmack. Ich öffnete in der Küche eine Flasche Wein, Jamie signierte im Wohnzimmer lachend seine Kochbücher und DVDs.

Jamie war beeindruckt von meinen Einkäufen, ich war Samstag gleich nach der Pressekonferenz noch in die Innenstadt gefahren, die Köstlichkeiten türmten sich in meiner Küche. „Thats a hell of a lot of food, Paulsen, what do you think, we should do with all that stuff?“. „You tell me, Jamie!“, rief ich, Jamie nahm lächelnd ein großes Stück Kobe-Beef in die Hand, da klingelte die Eieruhr. Ich besitze gar keine Eieruhr.

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Sonntag, 15. Januar 2006
Kochlöffel sind meine Lieblingsstöckchen II (mit Bonustrack: Opa Paulsen erzählt von Monsieur und dem Kotzbrocken)

Frau Mutant wirft ein Stöckchen, ein kulinarisches, da wird die Pflicht zum Vergnügen. Und weil es so schön reinpasst, erzählt Opa Paulsen unter Frage vier noch schnell die Geschichte von Monsieur, Obersturmbannführer Paulsen und dem Kotzbrocken.

1.welches nahrungsmittel o.ae. hat bei dir das erste mal (soweit du dich erinnerst) den gedanken "lecker" hervorgerufen?

Definitiv Götterspeise. Nicht irgend eine, nein es muss schon der grüne Wackelpudding von Dr. Ö sein. Das war auch das erste Rezept, das ich selber anrühren konnte. Mutter rief dann immer ich dürfte auf keinen Fall meinen Finger in die noch flüssige Speise tunken, irgendwelche Enzyme würden dann das Gelieren verhindern. Ich war fünf Jahre alt als ich sie der Lüge überführte.

2.welches nahrungsmittel o.ae. hat dich zum ersten mal richtig angewidert?

Kapern. Obwohl ich hohes Fieber hatte, und sehr grippal war, aß ich die servierten Königsberger Klopse, erbrach diese aber kurz darauf und fand schnell den Schuldigen. Es waren die Kapern. Ganz sicher. Mein Leben verlief daraufhin kapernfrei, bis mir ein Freund, der im VIENA, in Cas Concos /Mallorca kocht, ein Wiener Schnitzel mit frittierten (!) Kapern servierte. Grandios, diese kleinen, leicht salzigen, knusprigen Knospen.

3.hat sich diese einschaetzung im laufe deines lebens geaendert?

Absolut und das ist das Interessante an den ersten drei Fragen. Mir ist nämlich erst jetzt klar geworden, dass zumindest ich die kulinarischen Katastrophen meiner Kindheit überwunden, mich mit vielem was mir unessbar schien, versöhnt habe. Im Gegenzug haben sich die ersten kulinarischen Leidenschaften in lebenslange Liebe verwandelt. Schön.

4.magst du austern und kaviar und warum? beschreibe den geschmack/konsistenz.

Kaviar liebe ich. Die kleinen festen Perlen schmilzen im Mund, das Meer grüßt mit einem eleganten Hauch. Austern lehne ich ab. Der kulinarische Sinn dieser schleimigen Meeresrotze hat sich mir nie erschlossen. Auch sah ich zahlreiche Köche auf ihren Fischposten fast verbluten, weil sie ohne Stahlnetzhandschuh an den glitschigen Steinen abgerutscht waren.
An dieser Stelle erzählt jetzt Opa Paulsen noch schnell die Geschichte vom Kotzbrocken, dann dürfte alles klar sein:

Der Kotzbrocken

Wer sich in die Gluthölle einer sternendekorierten Restaurantküche begibt, um sein Geld als Koch zu verdienen, der lässt alle Hoffnung fahren und tritt einer Töpfe-rührenden Sekte von Eigenbrötlern bei, die unter sich bleiben, mit rotgeränderten Augen, schwitzend über schwarzen Eisenplatten zubereiten, was nur wenige Schritte weiter, verspeist und meist gepriesen wird. Hinter der Schwingtür schwelgt der Gast, die Fronten sind geklärt. Von drinnen dringt nichts durch die Wand aus gebellten Zubereitungsbefehlen und heißem Dampf, im Gegenzug leugnet der Gast die Existenz einer Küchenbrigade und setzt das Lorbeerkrönchen grundsätzlich nur dem Mann auf, dessen Name, gut lesbar, die Vorderseite der Speisekarte ziert.

Nur Stammgästen gelingt bisweilen der Sprung über den Servicepass. Verwirrung dann, auf beiden Seiten, künstlich grinsend starrt man einander an. Dein Gast, das unbekannte Wesen. Was? So viele Köche kochen hier? Schnell zieht es den Gast zurück zum Kerzenlicht, den Köchen eine Runde Bier.

Nicht so, Herr Warth. Stammgast. Distanzlos. Enthemmt. Laut.
Und ein echter Kotzbrocken.

Warths Auftritte waren berüchtigt und spektakulär. Der Alte hatte, und das pflegte er selbst in die Welt hinauszuposaunen, unter Hitler mehr als nur gedient. Er war Stammgast in unserem kleinen Gourmet-Restaurant, er kam nicht nur wegen der berühmten Kochkünste des Meisters, auch die Lage des Restaurants, nahe des Bodensees, im Dreiländereck, war günstig für ihn und seine Klienten.
Der alte Nazi war erfolgreicher Waffenhändler.

Sein Alter sah man ihm nicht an, er hatte die siebzig schon weit überschritten, gesund und kräftig sah er aus, fleischige, rote Wangen, ein Berg von einem Mann. Neben seinem unschönen Beruf pflegte Warth ein skurriles Hobby, das er bei uns auslebte. Er quälte Menschen mit Essen. Mit diabolischer Freude weidete er sich an den Gesichtern seiner, meist arabischen Kundschaft, die um Haltung ringend, gegen ein opulentes Menü ankämpften, unter 15 Gängen war nichts zu machen, beim alten Warth.
Er selbst war gesegnet mit einem guten Appetit, er traf stets vor seinen Gästen ein, erkundigte sich in der Küche nach dem Personalessen und verdrückte schon mal gerne mit Genuss einen Teller davon: „Gegen den ersten Hungerrrrr, ich sterrrb ja hier bis die Scheißkanaken endlich mit Ihrem Gebetsteppich angerauscht kommen.“

Wir waren immer gut vorbereitet, wenn Warth die Küche überfiel, Kartoffelsalat wurde noch mal mit Tabascosauce verfeinert, eine Suppe reicherten wir mit Fischinnereien an. Er schien das nicht zu bemerken, verschlang unbeeindruckt und hastig die gereichten Speisen. Was schert es die deutsche Eiche, wenn sich eine Sau an ihr reibt, war einer seiner Klassiker.

Eines abends dann, schlugen wir ihn mit seinen eigenen Waffen.
Alles lief wie immer, die Araber stöhnten leidend, Warth aß und orderte neue Speisen. Gegen halb zwölf, kurz nach dem Hauptgang, erschien er in der Küchentüre, knallte die Hacken zusammen und rief nach dem Chef:
„Verehrrrrter Meisterrr, diese grrrüne Sauce gerade, die war ein wahrlich göttlicher Schmaus, davon hätte ich gerne ein Glas mitgenommen.“
Der Küchenchef, Monsieur, ein Franzose mit Humor abseits der Norm, rief mich herbei und stellte mich Warth vor: „Das ist Herr Paulsen, der Obersturmbannführer unserer kalten Küche, er hat diese Sauce kreiert.“ Warth knallte erneut mit den Hacken, hob die Hand zum Hitlergruß und brüllte: „Obersturmbannführer Paulsen, meinen Rrrrespekt, grrrroßartige Leistung!“. Ich durfte Warth ein Gläschen Pesto abfüllen, er drückte mir fünf Mark in die Hand und raunzte verschwörerisch:“Das ist für dich, Kamerrrrad“.

Dann entdeckte er die Austern am Fischposten.
„Herrrlich, frrrische Austern, man bringe mir ein Dutzend, soforrt!“ Er aß zwei Dutzend. Und dann hatte Monsieur eine glorreiche Idee, eilte ins Restaurant und lud Warth auf ein weiters Dutzend ein.
Der nahm freudig an, leider hatte dieses letzte Dutzend, die Wirkung des berühmten Pfefferminzplätzchens in einem Restaurant-Sketch von Monty Python. Ohne Ankündigung erbrach Warth 14 Gänge, 32 Austern und drei Flaschen Rotwein auf den Tisch.

Die Araber schafften es mit grünbleichem Teint, noch zur Toilette und von dort, ohne Umwege, zu ihren Wagen in der Tiefgarage.
Warth reinigte sich oberflächlich, hinterließ 500,- DM Trinkgeld und wir haben den Kotzbrocken nie wieder gesehen.

5.wie steht es mit trueffeln und bries? beschreibe den geschmack/konsistenz.

Trüffel! Viel zu selten, aber immer sehnsüchtig. Trüffel riechen nach der frisch gewaschenen Haut einer schönen Frau und schmecken nach Sex mit derselbigen. Trüffel dürfen nicht gestört werden. Jede Begeleitung sollte sich zurückhalten wie ein perfekter Gentlemen.
Bries. Die Wachstumsdrüse des Kalbs. In Brühe vorgegart, ich Scheiben geschnitten und in schäumender Butter mit wenigen frischen Kräutern kurz gebraten. Meersalz, grober, schwarzer Pfeffer. Ein Himmelreich, das ich seit meiner Lehrzeit nicht mehr betreten habe.

6.welches "gourmet"-nahrungsmittel ekelt dich so richtig? warum?

Ich finde nichts ekelig, esse aber immer noch nicht alles. Austern zum Beispiel.

7.was wuerdest du gern mal essen, konntest es dir bisher aber nicht leisten/war nicht verfuegbar?

Kobe-Beef. Das butterzarte Fleisch des Wagyu-Rinds kann man auf der Zunge zerdrücken. Ich habe es während meiner Lehrzeit bei Monsieur gegessen. das war streng verboten. 50-80 Euro kostet ein Steak von 100 g derzeit. Es wird selten Angeboten, weil es äußerst rar ist. 100 g sind nicht genug. Ich spiele mit dem Gedanken, mir einmal ein Kilo zu bestellen und mit zwei, drei Freunden zu verspeisen. Dann treibt mir aber der Gedanke an den Postweg und den damit verbundenen Qualitätsverfall den Schweiß auf die Stirn und ich lasse es. Ich finde es gut, dass es nicht alles immer und überall gibt und das manche Dinge ihren Preis haben. Bleiben doch noch Träume!

Zusatzfrage von der Meisterköchin:

9. Welches Nahrungsmittel hat dich am meisten enttäuscht?

Erstmal, schön dass Sie wieder da sind Meisterköchin! Freut mich sehr!

Enttäuscht war ich mal sehr von 1000jährigen Eiern. Diese halbverwesten Dreck-Klumpen mit schillernd grünem Dotter und glasig-schwarzem Eiweiß schmecken tatsächlich wie sie aussehen. Naja, unserer Rache heißt Roquefort, den würden die Chinesen auch nicht essen.

Ich gebe den Kochlöffel weiter an Andropovs Onkel vom Trockendock. Der hat zu den Themen sicher was zu sagen;-)

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Donnerstag, 12. Januar 2006
Ein Jahr Kiosk

(Paulsen tritt ans Mikrophon)

Krrch,fiieepp. Tonktonk.

Paulsen: „Ähm, räusper, können Sie mich hören?“

Publikum: „Mhm.“

Stimme aus dem Publikum: „ Boah, jetzt hält er wieder Volksreden!“
(Publikum kichert)

Paulsen: „Ich will mich kurz fassen...“
(Publikum bricht in dröhnendes Gelächter aus)

Paulsen: „ 2004 war Don Dahlmann mein persönlicher Weihnachtsmann. Ich schrieb ihm damals eine Mail, ich hätte so gerne ein Blog zu Weihnachten. Bei Antville!"

Publikum: „hört, hört!“

Paulsen: „Erfolg versprechend schien mein Wunsch nicht, ein Antville-Blog ist ja nur durch Erbschaft zu bekommen. Aber Don, ein Mann der Tat mit großem Herz, wusste da wen und das war Frau Kasi. Der Kontakt war schnell hergestellt und ich schickte Frau Kasi als Bewerbung eine umfangreiche Auswahl von Texte, ich dachte das gehört sich so. Frau Kasi überließ mir gütig das Blog, nicht ohne mich darauf hinzuweisen, dass es Schwierigkeiten geben könnte, denn das Blog der Vorbesitzerin Frau Schubiak erfreue sich großer Beliebtheit und einer treuen Fangemeinde. Sie hatte nicht übertrieben. Am 05.01.2005 veröffentlichte ich meinen ersten Beitrag in dem ich mich kurz vorstellte. Nie wieder hatte ich auf irgendeinen Beitrag mehr Comments. „Gehen Sie weg!“, lautete der erste Eintrag, es folgten wüstere Beschimpfungen und Entgleisungen der unterirdischsten Art, dann schalteten sich die ersten differenzierter Denkenden ein und ich verfolgte gebannt eine Diskussion die ich nicht verstand. Am nächsten Morgen machte ich einfach weiter, die Wogen glätteten sich, ich löschte diesen ersten Tag in Blog und Herz und legte los. Trotz dieser ersten Erfahrung, ist es genau das was ich heute an Blogs so schätze: der respektvolle Umgang untereinander, die Achtung des privaten Raumes in einem sehr öffentlichen Medium. Anders als in Foren, ist hier niemand gezwungen alles und jeden zu lesen. Das nimmt der Sache ihre Schärfe, selektives Lesen ist doch eine wunderbare Angelegenheit. Der Kiosk wird mittlerweile von einer kleinen, überschaubaren Leserschaft regelmäßig gelesen, das freut mich unheimlich, dass sich da Menschen Zeit nehmen, lesen, kommentieren, loben, kritisieren, gerade weil ich doch eigentlich immer zu lange Texte schreibe und zu allem Übel auch noch sehr unregelmäßig.
Ich selbst habe in nur einem Jahr meinen Horizont enorm erweitert, viel entdeckt, gelacht, gestaunt und mit Vergnügen in die Leben anderer Menschen hinein gelesen. Ich habe in der Echtwelt spannende Menschen kennen gelernt und egal ob es um ein fröhliches Besäufnis, ein gutes Essen oder eine Lesung ging, Blogger sind immer ein Gewinn!“

Publikum: „Langweilig!“

Paulsen: „Zum Schluss möchte ich Ihnen allen zurufen...“

Publikum: „Aufhören, aufhören!“

Paulsen: „ Ich..äh..also..na dann.... Champagner für alle!“

Stimme aus dem Publikum: „Ha! Das ist ja gar kein echter Champagner, der ist ja virtuell!“

Unruhe, Stühle rücken, das Publikum verlässt unter Buh-Rufen und Protest den Kiosk.
Paulsen winkt den Aufgebrachten gerührt nach, flüstert: „Kommen Sie wieder!“ und bläst die erste Kerze aus.

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Samstag, 7. Januar 2006
Zwei kurze Geschichten vom Fliegen

1.
Die ersten Tage im neuen Jahr verbrachte ich arbeitender Weise im Bayerischen. Da die Zeit für den Auftrag knapp bemessen war und niemand am Neujahrstag arbeiten wollte, spendierte der Kunde mir einen Flug. Ich überlebte und landete nach einer Stunde in Nürnberg. Dort sollte ich abgeholt werden, 45 Minuten Fahrt zur Agentur, einen ganzen Arbeitstag gewonnen. Leider schickte die Agentur eine blutjunge Praktikantin, die auf einem Einödhof aufgewachsen war.

9:30 Uhr. Landung. Niemand da. 10:00 Uhr. Ich rufe in der Agentur an. Ja, man habe eine Praktikantin geschickt, nee, die müsse eigentlich längst da sein. Man gibt mir die Handynummer der Praktikantin. Nicht erreichbar. 10:30. Nicht erreichbar. Ich rufe die Agentur an. Doch, die Praktikantin sei seit zwanzig Minuten auf dem Flughafen. Ich rufe die Praktikantin an. Erreichbar! Ja, sie sei jetzt am Lufthansa-Schalter. Was sie dort täte, wusste sie auch nicht so genau, ich erklärte das Prinzip eines Flughafens und erzählte von der praktischen Einrichtung einer Ankunftshalle. Bin gleich da, verspricht die Praktikantin. 10:50. Ich werde über Lautsprecher ausgerufen. „Herr Paulsen, Herr Paulsen, bitte kommen Sie an den Informationsschalter.“.

Ich rufe die Praktikantin an und buchstabiere das Wort Ankunftshalle. 11:05. Ich stehe jetzt schon 30 Minuten länger in der Ankunftshalle als der Flug dauerte. Ich sehe mich um. Vielleicht weiß die Praktikantin nicht wie ich aussehe. Ich weiß aber wie die Praktikantin aussieht. Die Agentur-Empfangsdame hatte mir das genau erklärt. Sehr groß, hoch gewachsen, trägt eine Brille. Das Mädchen das mir um 11:15 auf die Schulter tippt und fragt ob ich Herr Paulsen sei, ist von zwergenhafter Statur und trägt keine Brille. Halt, doch! Im Auto setzt die Praktikantin eine Brille auf und fragt mich, wie wir denn jetzt zur Agentur kämen. Ich erkläre, dass ich das auch nicht wisse so als Hamburger und sie vielleicht so fahren sollte, wie sie hergekommen ist. Altväterliches Machogehabe bemächtigt sich meines ansonsten freundlichen Wesens.

Die Praktikantin fährt los, verpasst die Autobahnauffahrt und wir schleichen auf kurviger Landstrasse 1 1/2 Stunden durch die Fränkische Schweiz, die Praktikantin starrt angestrengt nach vorn gebeugt durch die Windschutzscheibe. Wenn sie nicht telefoniert („ja aber kann ich nicht in Kleckersdorf wieder auf die Autobahn?“). Mir wird schlagartig klar, dass nicht der Flug der gefährlichste Teil meiner Reise war. Gegen 13:00 Uhr erreichen wir die Agentur. Mit dem Zug wäre ich um 13:56 angekommen.

2.
Abends dann im Hotel, öffne ich das Fenster und lasse frische Luft herein. Sehr freue ich mich über obrigen Werbeflyer, den ich auf dem Schreibtisch finde. Ich denke kurz über die Anschaffung einer Lederhose nach, denn mal ehrlich, wollen wir nicht alle beachtet und beneidet werden? Ich verwerfe vernünftigerweise den irritierenden Gedanken, öffne mein Laptop um noch ein paar Rezepte zu schreiben, da saust durchs geöffnete Fenster ein schwarzer Schatten ins Zimmer, zwischen meinen Beinen durch, zieht lautlos am Laptop-Bildschirm vorbei und verschwindet in den Falten der Gardinen. Die Gardinen vibrieren. Ich auch. Wellenförmige Ganzkörpergänsehaut. Ich werfe mich memmenhaft zu Boden und beobachte von dort die Gardinen.

Da hängt ein kleines, schwarzes Säckchen. Es bewegt sich. Ich greife zum Telefon. „Fledermaus? Um diese Zeit? Das ist ungewöhnlich!“, erklärt die Rezeptionistin und ich solle doch bitte jetzt das Zimmer „ganz schnell verlassen.“. Ein psychologisch schlecht gesetzter Satz. Da ich über Fledemäuse nichts weiß, wähne ich mich jetzt in Todesgefahr, reiße den Laptop aus der Steckdose, rein in den Koffer, Rückzug, die Augen immer zur Gardine gerichtet.
Am nächsten Tag erfahre ich von der Einheimischen Bevölkerung das Fledemäuse: „nix duan, di ham mehrr Angscht vor dir wiea du vor dene.“ Und ich solle nächstes Mal: „des Dier am Nagge pagge und naus schmeise.“. Also die Einheimischen meinten diese Tier hier:

Laß ich doch lieber das Fenster zu nächstes Mal.

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Sonntag, 1. Januar 2006
Herr Paulsen schreibt einen Brief. Heute: an das Jahr 2005

Na, 2005,

wie geht es Dir so, an Deinem ersten Tag als Rentner? Hast ja gestern noch mal gut aufgedreht, mit lieben, wichtigen Menschen bei feinem Essen. Ein würdiger Abschied, Du warst, für mich, ein gutes Jahr. Ich muss Dir aber noch was gestehen. Ich konnte Dich eigentlich Dein gesamtes Leben lang nicht leiden. Du warst unglaublich anstrengend, selten fühlte ich mich so massiv überfordert wie in Deinen Tagen. Alles zuviel, immer müde. Und dabei dann auch den Überblick verloren und erst spät erkannt, Du warst ein gutes Jahr, ein sehr gutes sogar.

Deine Vorgänger wissen es schon, ich werde immer weich und matschig in der Birne, wenn ihr euch verabschiedet. Ich setzte mich hin und denke am ersten Tag des neuen Jahres über uns nach. Darum mag ich auch Neujahr so gerne. Ein wichtiger Tag. Wahrscheinlich für mich erfunden. Der einzige Tag an dem ich kurz inne halte, Resümee ziehe, nach vorne UND nach hinten schaue. Könnte auch jeder andere Tag sein, Neujahr ist einfach praktisch. Das ist ja sonst nicht so mein Ding, das Hinsetzen, das zur Ruhe kommen. Nee, nee. Rock´n Roll-ADS auf allen Bühnen und am liebsten auf allen Bühnen gleichzeitig. Alles annehmen, alles umsetzten, überall dabei sein, nur nix verpassen. Einer geht noch. Einer geht noch rein.
Und dann am Neujahrstag da sitzen und sagen, was für ein Scheißjahr. So anstrengend. Jammern. Große Deutsche Tugend.

Und dann doch noch ein klitzekleiner Gedanke hinterher. Da kann doch das Jahr nix für, da kannst Du 2005 so überhaupt nix für. Alles hausgemacht. Du kannst nix für den Irak-Krieg, für Dieter Bohlen bist Du nicht verantwortlich und für meine vermeintlichen Überforderungen erst recht nicht. Du bist nur der Kalender, den wir füllen. Mit was, das ist unser Problem. Mein „Problem“ liegt vor mir auf dem Tisch. 365 Seiten fahrig voll gekritzelt mit Schlachtplänen, Verpflichtungen, Herausforderungen und Amüsierterror-Terminen. Alles selbst eingetragen, alles gemacht, alles erlebt, überall gewesen. Mir ist es leider erst beim Zurückblättern aufgefallen, Du warst ein verdammt gutes Jahr. Eines der Besten sogar. Top Ten.

Steht da nämlich auch im Kalender. Muss man nur gründlich lesen. Erfolge, Rekorde und Seitenweise Liebe, Anerkennung, Streicheleinheiten, Glück. Ich sehe das erst heute am Neujahrstag, aber es ist ja nicht zu spät, für dieses Gefühl das aus der Mode gekommen ist: Dankbarkeit.

Du bleibst mir im Gedächtnis 2005. Du hast es gut mit mir gemeint. Fast hätte ich es nicht bemerkt.

Tschuldigung,

Paulsen

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Samstag, 31. Dezember 2005
Bis morgen.

Ich wünsche Ihnen allen heute eine rauschende Nacht oder aber auch ein stilles Gleiten, rüber ins neue Jahr. Möge sie das Alte entlassen und das neue Empfangen, wie Sie es sich wünschen.

Bevor ich mich jetzt auf den Weg mache, möchte ich Ihnen noch schnell einen Song vorspielen, den ich mitnehmen werde:

Tiny Apocalypse
David Byrne
(taken from the Album Grown Backwards)

Raise up - shake them lazy bones
Read the T-shirt but still don't understand
Comin' home with a little apocalypse
It comes, now do you have time for this?

A 3-tone carpet and a Jackie Chan spear
Lookin' at a hairdo and a belly full of beer
Well I ain't no poet, ain't got no rhyme
Well I got me a car and I don't know how to drive

In the event of a pressure loss
All our lines are busy now
I will be laughing out loud anyhow

Ev'ryday, a little apocalypse
Lay down, lay down next to this
Lookin' at the body well I don't even know his name
Call me in this morning was a friend of mine

Well the wind so strong, it's blown us all around
Wind so strong, nobody settle down
Ev'ryday another apocalypse
Had a TV but I don't know how deep it is

Please read the print advisory
Would you like to go ahead?
Dancin' wherever she goes - Tippytoes

Rhetorical
Memorial
Invisible
Incredible
Unstoppable
Emotional
Illogical
Sensational

Little sister gotta take her medicine
Baby brother, gonna do it all again
Runnin' fast but cannot catch the bus
Funny feelin', this is part of us

And you must take your medicine
Getting better everyday
Good for a limited time - Feelin' fine

We will return your things to you
When it's time for you to leave
So quiet nobody knows - Tippytoes

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Freitag, 30. Dezember 2005
Babysitter Paulsen berichtet.

Ich bin da gar nicht so. Ich finde Eltern dürfen auch mal raus. Viele Eltern sehen ja jahrelang überhaupt keine anderen Menschen. Und als gestern die Eltern meines Patenkindes anriefen, sie hätten Karten geschenkt bekommen, für die Tim Mälzer Kochshow im CCH, aber alle Babysitterinnen seien schwer beschäftigt, da zögerte ich nicht, packte meine Sachen und machte mich sofort auf den Weg zu meinem ersten Babysitting. Vorsichtshalber rief ich noch die Liebste an, die versprach, mich bei diesem heiklen Einsatz gleich nach der Arbeit zu unterstützen.

Am Einsatzort angekommen wurde ich freudigst begrüßt, ja der Lütte sei ein bisschen krank, ja Fieber, nein er stürbe voraussichtlich nicht heute Nacht meinen Armen. Ich war so mittel beruhigt. Mir wurde Bier angeboten und auch meinem Wunsch nach der traditionellen Babysitterspeisung, Pizza vom Lieferservice, wurde entsprochen, der Hausherr füllt für mich ein Online-Bestellformular aus. Nein, eine Fernsehzeitschrift habe man nicht, man habe ja Kinder. Dann wurde mir mein fiebriges Patenkind vorgeführt, ins Bett gepackt und ich erhielt genauste Instruktionen. Wenn es schreit, fünf Minuten warten, dann kurz rein, beruhigen, raus. Easy! Am meisten freute sich die ältere Tochter des Hauses über mein Erscheinen. Wann denn die Eltern endlich gehen würden und ob wir gleich was spielen könnten, fragte mich der Grundschulfloh. Ich sagte leider zu.

Der Hausherr fragte den Grundschulfloh zum Abschied noch, wer der Boss sei? Herr Paulsen, rief der Grundschulfloh und ich begann meinen neuen Job zu mögen. Mit glühenden Bäckchen hüpften die Eltern dann der neu gewonnenen Freiheit entgegen. Ich blieb zurück und der Grundschulfloh baute „Max Mümmelmann“ auf, ein spannendes Spiel für Kinder ab 5 Jahren.
Das Spiel durchschaute ich sofort! Und während ich noch überlegte ob ein harter Sieg meinerseits nicht pädagogisch wertvoll für das Kind sein könnte, hatte ich auch schon verloren. Dann kam die Liebste, ich öffnete mir ein zweites Bier. Ich trug die Verantwortung, sie würde nüchtern bleiben und im Todesfall die Eltern benachrichtigen. Wir bestellten Pizza.

Für das zweite Spiel, irgendwas mit bunten Fröschen und Farben merken, war ich einfach zu doof, die Damen teilten alle Teichrosen untereinander auf. Auf die Teilnahme am Memory-Wettbewerb verzichtete ich daraufhin ganz, mit versteinerten Gesichtern, schweigend und in Windgeschwindigkeit lieferten sich die Liebste und der Grundschulfloh einen erbarmungslosen Memory-Krieg. Da es bimmelte! Ich rannte zur Haustür. Das musste jetzt der Pizzaservice sein. Draußen war niemand, drinnen nahm der Grundschulfloh den Telefonhörer ab und redete mit dem Pizzaservice. Es ist wichtig zu wissen, dass das Freundespaar gerade Umgezogen ist und obwohl wir bei der Online-Bestellung alle neuen Daten eingegeben hatten, stand der Pizzabote jetzt viele Kilometer entfernt vor der alten Haustür, dort wurde die Annahme dankenswerter Weise verweigert. Man versprach neue Pizzen zu backen und „gleich“ zu liefern. Merke: Pizzadienste können nur Telefonnummern und wenn die mit umziehen, wird alles kalt.

Da! Das Patenkind weinte! Uhrenvergleich, fünf Minuten warten, immer noch Herzerreißendes aus dem Kinderzimmer zu hören. Ich also rein, Hand auflegen, Beruhigendes brummeln (das geht super mit Raucherlunge!) und schon Sekunden später war das Glück meines Alters wieder entschlummert. Paulsen Kinderflüsterer! Ich hatte alles im Griff! Wer ist hier der Boss!

Erneuter Anruf vom Pizzadienst. Der Lieferant stünde nun vor Haus Nummer 19. Ich fragte den Grundschulfloh wo sie wohne und nur 10 Minuten später stand der Kurier vor der Hausnummer 2. Der Pizzadienst hatte gelogen. Die waren nicht neu gebacken, die waren weit gereist die Pizzen. Viel Zeit war aber sowieso nicht für kaltes Fett auf müder Hefe, denn jetzt sollte ich dem Grundschulfloh noch was vorlesen. Mama sitzt immer mit mir im Bett, beschwerte sich der Grundschulfloh. Ich bin nicht Deine Mama, erklärte ich, nahm auf einem Stuhl platz, die Lesung konnte beginnen. Lesen kann ich. Ich trete ganz oft vor vielen Menschen auf und lese vor. Besonders stolz bin ich darauf, dass ich drei bis vier verschiedene Stimmen kann. Leider wimmelte das ausgewählte Buch nur so von Protagonisten, die gesamte Belegschaft eines Mischwaldes hatte sich versammelt, sogar die Heidelbeeren konnten sprechen. Natürlich beschwerte sich der Grundschulfloh die ganze Zeit. Hey, du musst so reden wie der Maulwurf, jetzt redest du aber wie die Wasserspinnen, hä, so redet der Storch aber gar nicht! Insgesamt die schlechteste Lesung meines Lebens und ich musste an Rufus Beck denken und wie der wohl so ist, als Babysitter.

Da! Das Patenkind weinte! Uhrenvergleich, fünf Minuten warten, immer noch Herzzerreissendes aus dem Kindererzimmer zu hören, sich steigernd, lauter werdend, Sirene an, Vollalarm! Ich also rein, Handauflegen, Beruhigendes brummeln. Keine Änderung der Situation. Ich nahm den Lütten hoch. Nicht hochnehmen, zischte die Liebste. Ich trug den Lütten ans Licht und in die Küche, dort stand die Wasserflasche. Sach ma spinnst du, zischte die Liebste, gib mal her und hol gefälligst die Wasserflasche aus der Küche. Ich übergab das schreiende Bündel und der Lütte schrie noch mehr, was mich insgeheim sehr freute. Ich mach das, mich kennt er besser, sagte ich zur Liebsten. Du gehst jetzt, zischte sie, und ich gehöre zu den Männern die wissen wann Mann gehen sollte.

Erschöpft setzte ich mich vor den Fernseher und kuckte „Frauentausch“. Fünf Minuten später erschien auch die Liebste mit triumphalem Gesicht und erläuterte mir, wie auf Kinder aufzupassen sei. Ich müsse doch nur von mir ausgehen ! Stell Dir vor du wachst auf und man trägt dich sofort ins grelle Licht. Das leuchtete mir gleißend hell ein.
Bei „Frauentausch“ bandelte eine Tauschmutter, mit einem Faible für schwarze Männer, gerade mit der schwarzen Verwandtschaft der Tauschfamilie an und die Liebste und ich überlegten welche Versuchungen wohl das Leben für uns bereit hielt. Ich unterstellte ihr einen Hang zu prolligen Bauarbeitern im Blaumann. Die Liebste verneinte massiv und konterte mit einer zartgliedrigen Asiatin in hochhackigen Riemchenschuhen die ununterbrochen säuseln würde: „ Was kann ich jetzt noch machen, Herr Paulsen?“. Ich verneinte massiv, fragte mich aber schon woher sie das nun schon wieder wusste. Gott sei Dank kamen in diesem Moment die Eltern zurück, wir öffneten noch eine Flasche Wein und die beiden erzählten vom „verschwendetsten Abend“ ihres Lebens. Im Kinderzimmer brüllte der Lütte, alle blieben sitzen. Sieben Minuten. Dann war Ruhe von ganz alleine. So geht das natürlich auch. Wenn man Eltern ist.

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