Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 1. Januar 2007
"Frische Suppe" am Neujahrstag

Definitiv der erste kulinarische Höhepunkt des neuen Jahres und eine lebensrettende Tradition meiner norddeutschen Familie ist die "Frische Suppe". Am Neujahrstag läd Großmutter die gesamte Familie zur "frischen Suppe" ein. Um Zwölf Uhr. Man kommt besser nicht zu spät.

Aus Markknochen, Rinderbeinscheiben und hoher Rippe kocht sie bereits Silvester eine kräftige, duftende Brühe. Am Neujahrsmorgen macht sie dann Mehlklüten (Mehlklöße), knetet würziges Hackfleisch, rollt kleine Hackbällchen, schnippelt die Gemüse klein, kocht separat goldgelbe Kartoffeln und Reis, schneidet das butterzarte Fleisch in Stücke.

Punkt Zwölf kommen dann riesige Schüsseln der dampfend-heißen Suppe auf den Tisch, die Scheiben des kleinen Häuschens sind beschlagen, alle sitzen eng beieinander um den großen Tisch im Esszimmer und hauen ordentlich rein. Jeder muss erzählen wie er die Silvesternacht erlebt oder überlebt hat, es wird viel gelacht. Die Suppe wärmt ordentlich, schon nach wenigen Löffeln gerät man stark ins schwitzen, der Körper jubiliert, Lebensgeister steigen aus dem Dampf empor, Fettaugen zwinkern einem aufmunternd zu, es schmeckt fantastisch! Im Fernsehen läuft das Neujahrskonzert in brüllender Lautstärke, auch das ist Tradition. Dann wird Pudding aufgetragen und grüne Götterspeise mit cremiger Vanillesauce, dazu Pfirsiche aus der Dose. Opa kocht Kaffee, nicht ohne vorher jeden Gast darüber in Kenntnis zu setzen, dass es sich hierbei um "echten Bohnkaffee!" handelt. Opa geht nicht zu verschwenderisch mit dem Kaffeepulver um und so herrscht schnell Verwirrung: „also in dieser Kanne ist Tee!“ - „ich hab gar keinen Tee gemacht!“

Oma scheucht alle in die „gemütliche Ecke“, Berliner werden aufgetischt und Schmalznüsse, ein herrlich lockeres Mürbteig-Schmalzgebäck. Ein großer Friede überfällt mich und Dankbarkeit, für diesen Tag, diese Familie, diese Großmutter. Das neue Jahr kann kommen, ich bin gerüstet.

... Link


Sonntag, 31. Dezember 2006
Und dann war da noch…

Beste Entscheidung:
Weniger zu arbeiten!

Schlechteste Entscheidung:
Die Entscheidung weniger zu arbeiten als geistige Verwirrung abzutun und zu ignorieren.

Beste Anschaffung:
„Ein Navi kaufen, ist wie Weine nur noch bei Hawesko bestellen.“ erklärte mir mein Freund JochenausBerlin. Mir egal, ich bin Orientierungsdepp und komme jetzt schneller und entspannter an. Ich kann ja nicht ständig die Liebste mitnehmen.

Dämlichste Anschaffung: Ein Backfischbrötchen am Frankfurter Hauptbahnhof. Das wollte einfach nicht mit.

Schönster Absturz:
BalkanBeats im Hamburger „Knust“. Und danach noch Karaoke mit meinem Freund Mikeybar! Ich bin ein unfassbar guter Bob Marley-Interpret!

Schlimmster Absturz:
Noch 700 Meter bis zur Wohnung. Und ich verlaufe mich. Dreiviertelstunde. Hätte ich nur mein neues Navi mitgenommen, das hat nämlich auch Fußgänger-Function.

Bestes Getränk:
Champagner. Man muss Champagner mit großen Schlucken trinken, schrieb der Spitzensommelier Hendrik Thoma vom Louis C. Jacob in irgendeiner Zeitschrift. Dass habe ich erst in diesem Jahr probiert.

Ekelerregendes Getränk:
Ein wirklich großer Bordeaux. Zwanzig Jahre alt! Und zwanzig Jahre bei der Schwiegermutter im Wohnzimmer gelagert.

Bestes Essen:
Das war schon mehr als ein Restaurantbesuch. Die Rückkehr ins Restaurant von Monsieur, werde ich nicht vergessen.

Schlimmstes Essen:
Muscheln (!) in dunkler (!) Mehlschwitze (!).Hier.

Beste Musik:
Das wiederum können die Katalanen!

Schlimmstes Gejaule:
Schalt ich immer ab.

Eigene, schönste musikalische Wiederentdeckung: The Magnetic Fields und ihr Album „69 Lovesongs“. Entdecke ich aber eigentlich ständig wieder.

Peinlichster musikalischer Faux-Pas:
Vor kurzem ging es mir mal nicht so gut. Dann erschien die Rammstein-DVD „Völkerball“. Die hab ich dann gekauft, weil ich den Titel großartig fand. Dann habe ich mir alle Rammstein-Alben gekauft. Dann habe ich zwei Wochen ausschließlich nur Rammstein gehört. Dann ging es wieder.

Beste Idee:
Zum Arzt gehen. Nach sechs Jahren zum ersten Mal. Total ängstlich: „Einmal alles bitte.“ Ergebnis: der Bub ist rundum pumperlgesund. Eine vier Jahre alte Hintergrundschleife der Sorge einfach weg.

Beste Lektüre:
Saša Stanišic „Wie der Soldat das Grammofon repariert.“ Unfassbar gut.

Langweiligste Lektüre: Jahresrundbrief der Steuerkanzlei

Bester, dreckigster, geilster Sex:
In einem Hotelzimmer in Berlin (wir haben aber gutes Trinkgeld für den Zimmerservice hinterlassen!).

Langweiligster Sex:
In einem Hotelzimmer in Bremen. Zufällig auf die Pay-TV-Taste gekommen. Beim Roomservice reklamiert. Rezeptionistin: „Sollen wir diese Funktion für Sie sperren?“ Ich so: „Ja bitte.“

Allen Kiosk-Leserinnen und Lesern wünsche ich ein wunderbares, neues Jahr, möge 2007 ganz nach Ihrem Geschmack sein! Und ich Danke für die Treue! Group hug!

... Link


Freitag, 29. Dezember 2006
Musikalisches Jahresend-Stöckchen für geschmackvolle Trinker


Cover:Lisa9

Jedem Alkohol wohnt ein Liedchen inne, dachte ich mir, als ich Anfang Dezember meine traditionelle Jahresend-Cd für liebe Menschen zusammenstellte. Mit diesen Motto-Cds belästige ich schon seit längerem den Freundeskreis und dieses Jahr machte ich es mir zur Aufgabe Musik trinkbar zu machen. Zu diesem Zwecke überlegte ich mir, wie verschiedene Alkoholika klingen, welcher Drink welche Platte in der Jukebox meines vernebelten Gehirns anschmeißt. Dabei ging es weniger darum, den Namen des Getränks im Lied auftauchen zu lassen, sondern vielmehr um das Finden der perfekten, musikalischen Übersetzung diverser Getränke und ihrer Wirkung. Besonders gefreut hat mich, dass ich dieses Jahr für die Covergestaltung Lisa9 gewinnen konnte, so stimmte zumindest schon mal die Verpackung, denn ich musste feststellen, dass die musikalische Zuordnung von Alkoholika eine sehr persönliche Angelegenheit ist. Aber zunächst mal mein Ergebnis für ein tönendes Trinkgelage:

Champagner : Où Sont-Ils Donc ? / Rita Mitsouko
Sekt auf Eis: Oh La La / Goldfrapp
Weißwein: Carioca / Artie Shaw and his Big Band
Rotwein: Love, music, wine and revolution / The Magnetic Fields
Martini: Cherry Pink and Apple Blossom White / Perez Prado Orchestra
Whiskey: Tu Vuo'fa L'Americano? / Ray Gelato Giants
Averna: Pizza E Sole / Roy Paci & Aretuska
Anisette: Du lässt dich gehen / Charles Aznavour
Cachaça: Mas Que Nada / Sergio Mendes & Black Eyed Peas
Bombay Saphire: Dead Man / Nitin Sawhney
Wodka: Iag Bari (Shantel Remix) / Fanfare Ciocarlia
Tequila: Tequila / Rich Prez
Raki: Ya Rayah / Rachid Tah
Absinth: Silberweidenpark / Deichkind
Grappa: Hey Mambo / Dean Martin
Kubanischer Rum: Besame Mucho (Chachacha Remix) / Césaria Évora
Jamaican Rum: Kinky Reggae / Sebastian Sturm
Bier: I Love Rock & Roll / Hayseed Dixie
Jägermeister: Wovon lebt eigentlich Peter? / Winson
Doppelkorn: Feuer frei / Rammstein

Erste Rückmeldungen aus dem Freundeskreis zeigten, dass das ganze so einfach nicht ist. Allgemein wurde bemängelt, dass die CD ab Track 19 eigentlich nicht mehr hörbar (und wie ich finde auch nicht mehr trinkbar) sei. Zudem stellte sich heraus, dass natürlich jeder Mensch an der Bar sein eigenes Liedchen ins Glas summt. Und das macht mich neugierig!

Erstmals geht darum von diesem Blog ein Stöckchen aus, ich möchte wissen, wie Ihre Kopf-Bar klingt. Was hören Sie zum Champagner, wie tönt der Tequila in Ihren Ohren? Mitmachen kann und soll wer Lust hat, zwangsverpflichten möchte ich nur gerne die Herren Jockel und Andropov, deren musikalische Kompetenz und Trinkfestigkeit ich aufrichtig bewundere. Ich bin sehr gespannt, was Sie alle zuhause so trinken und hören und freue mich über rege Teilnahme, auch als musikalische Anregung für die Silvesternacht. Wer das Stöckchen beantwortet hat, gebe bitte hier kurz bescheid, meine Referrers sind ausgeschaltet. Hier noch mal die Liste der gefragten Getränke zum ausschneiden und ausfüllen:

Champagner
Sekt auf Eis
Weißwein
Rotwein
Martini
Whiskey
Averna
Anisette
Cachaça
Bombay Saphire
Wodka
Tequila
Raki
Absinth
Grappa
Kubanischer Rum
Jamaican Rum
Bier
Jägermeister
Doppelkorn

Und immer dran denken, was schon mein Großvater sagte:

„Jede Fröhlichkeit ohne Alkohol ist gekünstelt!“

... Link


Samstag, 23. Dezember 2006
Mixed Pickles-Weihnachtsausgabe

Unser Tannenbaum ist acht Jahre alt, sagt der Christbaumverkäufer und dass er jetzt die Setzlinge für Weihnachten 2014 in den Boden gebracht hat. Ich fühle mich ein bisschen wie echte Schildkrötensuppe essen.



Praktisch: die Warteschlange unserer Postfiliale begann tagelang direkt vor unserer Haustür. Seit gestern ist Ruhe.

Mein Spam-Schutzprogramm ordnet die meisten der erhaltenen E-Mail-Weihnachtspostkarten als Spam ein. Die Kiste kann ja doch denken!

Gestern mit den Jungmännern meiner norddeutschen Familie auf ein Weihnachtskonzert. Stichwort: Integration süddeutscher Einwanderer. Auf der „17. Bagaluten Wiehnacht“ bewarfen sich 6000 Männer in Wikinger-Kostümen gegenseitig mit Bier (Becher 3 Euro), dazu spielte die Band Torfrock („Oh Karola, sich letzte Woch ist dat um mich geschehen ick hann dich in de Küch Krabben pulen sehn…“). Im Anschluss vom Onkel 150 Integrationspunkte und noch ein Bier bekommen. Verdient!



Papa erzählt, er habe sein ganzes Leben lang zu Weihnachten eine Gans gehabt. In schlechten Zeiten hat Opa das Tier auch mal für viel Geld auf dem Schwarzmarkt erstanden, oder im Garten groß gezogen. In seiner Stimme schwingt ein rührender Stolz. Wir haben dann doch noch eine Gans bestellt.

Die Weihnacht meiner Kindheit ist Vergangenheit. Die ewigen Kinder sind verstreut, das Elternhaus bewohnen jetzt Fremde, die Eltern sitzen in einer kleinen Anliegerwohnung. Das Ungeahnte geschieht: die verdammten, nervtötenden Rituale fehlen mir jetzt schon, ich spüre das, ganz leise, im Hintergrund, seit Tagen schon.

Eigene Rituale erfinden!

Frohes Fest! wünscht man dieses Jahr vermehrt, zwischen Tür und Angel. Früher wünschte man fröhliche Weihnachten. Frohes Fest ist aber auch irgendwie unverbindlicher.

Gestern bei der lieben, alten Frau Böhme geklingelt und Pralinen vorbei gebracht und ein frohes Fest gewünscht. Und Sie mir: „viel Erfolg im nächsten Jahr mit ihrem Beruf, sie sind ja viel Zuhause.“ Beruf in Anführungszeichen.

Die Liebste sagt, sie liebe Weihnachten und auch der Stress gehöre dazu, sie liebe auch den Weihnachtsstress. Ich liebe meine kluge Liebste, die Königin des klaren Gedankens und der Entschleunigung.

Ich wünsche den Leserinnen und Lesern des Kiosk fröhliche Weihnachten, ein frohes Fest, eine Gans, eigene Rituale, einen Tannenbaum (Plastik rockt!) und Entschleunigung. Ach so, und natürlich: viel Erfolg im nächsten Jahr mit Ihrem "Beruf"!

... Link


Dienstag, 19. Dezember 2006
Herr Paulsen geht aus: Morrissey (Color Line Arena, Hamburg)

Dieser essigsaure Geruch der Jugend, der beißende Gestank von Schweißfüssen, der dumpfe Muff von eingetrocknetem Sperma auf nummerierter Bettwäsche, lustlos und vor allem leise, dem Halbsteifen abgepresst, in der Dunkelheit der ewig wispernden Schlafsälen des christlichen Internats. Jeweils acht Jungen, zwangskaserniert im Hanni & Nanni-Albtraumland. Die Tage endlos: schwere Herzen, pubertäre Verwirrung, immer ein schlechtes Gewissen, selbst die Kämpfe ein lustloser Freizeitvertreib. Musik: The Smiths.

Morrissey sang „The boy with the thorn in his side“ und im Zwielicht der nachmittäglichen Lernstube öffnet sich ein Pool, gefüllt mit warmem Selbstmitleid, mit Verständnis. Hineinspringen, untertauchen, schwimmen, wegschwimmen, entkommen. Wir waren nicht die Kinder die die Geschäfte der Welt übernehmen sollten, die Welt hatte uns hierher gebracht und würde uns auch nicht mehr abholen. „Last night I dreamt, that somebody loved me, no hope, but no harm, just another false alarm“ Morrissey wusste wie es uns geht und sang für uns, sang über uns, jede Zeile eine unumstößliche Wahrheit. Morriseys Texte, das waren die Nachrichten aus unserer Welt und nur wir hörten sie, sie gehörten uns. Schlechte Nachrichten zwar, aber immerhin die Bestätigung: es gibt uns.

Später in meinem Leben ist es mir nie wirklich gelungen, den klebrigen Pubertätspathos von den abgegriffenen Covern meiner Smiths-Plattensammlung zu lösen, aber Morrissey schenkte, gottlob, immer mal wieder neue Alben. „Die Vergangenheit ist ein grandioser Ort“ hatte Morrissey sein Publikum beim ersten Deutschlandkonzert in Frankfurt zugerufen:„aber ich möchte da nicht leben.“

Und gestern Abend dann Hamburg. Großes Klassentreffen in der Color Line Arena. Von Drinnen dröhnt eine Vorband, die vom Großteil des Publikums ignoriert wird, wir warten hier auf Morrissey und das tun wir am Bierstand, wir lassen heute nur Morrissey an unsere Ohren. Es gibt auch viel zu kucken. Gut sehen sie aus, die traurigen Kinder von damals! Die Welt scheint sich definitiv ihrer erinnert zu haben, eine freundliche Heiterkeit liegt in der Luft, schöne Männer, noch schönere Frauen, man ist stilsicher gekleidet und entspannt.

So wie Morrissey selbst, der charmant den Vorsteher einer wirklich unglaublich brillanten Band gibt. Vom Klavier her tönt Anfangs die Deutsche Nationalhymne, in kräftigem Stakkato marschmäßig in die Tasten gehauen, kleiner Lacher, dann kommt er schon, schwenkt die silbergraue Tolle, rüttelt noch mal am Kettchen, das ins weit geöffnete Hemd hängt, und singt. Singt! „Panic“. Aber wie! Kraftvoll und sicher, wo ich ein Altersbröckeln vermutet hatte, frisch und klar fliegt seine Stimme, Runde um Runde, über unsere Köpfe und in sie hinein. Die Freude über das abendliche Zusammentreffen ist beidseitig, hier wird bedingungslos geliebt! Morrissey klatscht beinahe ebenso oft Beifall wie sein Publikum. Pier Pasolini ist der einzige im Saal, der den ganzen Abend betrübte Mine zum feinen Spiel macht, ernsthaft blickt er zwei Stunden von der Bühnenleinwand ins Rund, in dem das Konzert hingebungsvoll, gemeinsam zelebriert wird. Jedem Liedanfang, folgt ein seliger Seufzer kollektiven Erinnerns, es wird mitgesungen, es wird geweint, es wird nicht gespart an großen Gesten, ebenfalls wieder beiderseits der Bühne. Orchestrales Aufbrausen, erstaunlich rockige Gitarrenwände und weil es so schön ist, jubelt über allem noch eine majestätische Posaune, große Becken werden zusammen geschlagen, die ganz große Trommel muss dringend auch noch gehauen werden. Genug ist nicht genug. Und immer wieder Hände in die Höhe, Arme ausbreiten, umziehen, kurz mal ausziehen und wieder umziehen. Und diese weiche, warme Musik, die den Pathos nicht scheut, die nichts dagegen hat, Pop zu sein, die zickig ist und divenhaft und wunderschön.

Dieser Abend, ein großes Glück und groß ist der Wunsch, Danke zu sagen. Steven Patrick Morrissey tut es: "Thank you for all you have given. And to those who don't like me: I will grow on you."

... Link


Dienstag, 12. Dezember 2006
"Endlich! Die Wahrheit!" - was die alte, neue Tempo-Redaktion uns vielleicht sagen wollte.

Ich hab ja Zeit. Sogar Zeit für Tempo. Momentan sitze ich in einer winzigen, in Stein geschlagenen Gastarbeiterwohnung in den katalanischen Bergen (Meerblick!), abends jedoch schwärzt sich das Panorama und ich könnte die mitgeschleppten Bücher lesen. Stattdessen lese ich den mitgeschleppten, neuen Tempo-Katalog. Immer stärker wird dabei dieses Gefühl, dass sich beim Betrachten totgefahrener Tiere am Straßenrand einstellt. Ein innerlicher Ekel. Man muss aber trotzdem irgendwie hinsehen. Ich müsste ja nicht hinsehen, ich könnte diese knapp 400 Seiten lautstarker Langeweile dem Altpapier überlassen. Die mir eigene Sorgfaltspflicht hindert mich aber daran. Ich schreibe nicht über ein Magazin, ohne wirklich alles gelesen zu haben. Vielleicht übersehe ich den Lichtblick, vielleicht verpasse ich die Gesamt-Idee dahinter.

Gerade habe ich es geschafft. Ich bin durch. Und muss der Redaktion um Markus Peichl ganz herzlich gratulieren. Eindrucksvoll gelang der Coup aber wirklich jeden Mist, jeden Fehlgriff, jede Entgleisung, jede Mode der aktuellen Deutschen Unterhaltungszeitschriftenlandschaft zu kopieren und auch zu drucken. Ich meine: Geschwätzigkeit, Langeweile, Beliebigkeit, Ignoranz. Ich meine: selbstverliebtes Rummeinen, ich meine populistisches Geschwafel mit umwerfend brummendem Selbstvertrauen. Ich meine: Seiten zu füllen ohne nennenswerte Inhalte zu liefern. Mäkeln, draufhauen, Bange machen. Nachmachen statt anders sein. Dranhängen, statt Vormachen. Wer glaubte, die alte, neue Tempo-Redaktion sei angetreten, nochmals Impulse zu geben, Zeichen zu setzen, der sei jetzt nicht enttäuscht, sie haben den oben umrissenen Zeitschriftenstil erfunden und salonfähig gemacht, dieses „immer alles ganz lustig, ganz doof finden“. Das war neu, das war erfrischend, es sei der Mannschaft ihre kurze Auferstehung in Grabsteinform gegönnt.

Ich gehe nicht auf die einzelnen Artikel ein, das haben andere Menschen an anderen Stellen ausführlich und wunderbar gemacht (ich empfehle die anhängende Linkliste). Was mich wundert: die Lektüre der Zeitschrift erschütterte mich ernsthaft. Niemals zuvor sah ich so geballt alles was ich am heutigen Zeitschriftenjournalismus verachte und niemals war der Wunsch dringlicher, über Alternativen nachzudenken. Wie wäre es denn, wenn Zeitschriften wieder eine Seele hätten und eine Überzeugung, wenn Zeitschriften ihren Lesern nicht nur das Ungemach der Welt aufzeichneten sondern auch Lösungswege anböten? Wenn Zeitschriften wieder sexy wären, ohne nackt zu sein? Verführer, Neugierigmacher, Ermutiger. Und nicht nur marktschreien und wiederkäuen, sondern: auch mal wieder denken mit der Tastatur und sich der Sprache erinnern. Und: keine Angst vor Gefühlen! Ja, gut, letzteres ist jetzt wirklich zuviel verlangt.

Das zu leisten, war nicht Aufgabe der alten, neuen Tempo-Redaktion. Vielleicht aber ist in den Redaktionsräumen etwas wirklich Großes passiert. Vielleicht war beabsichtigt, was ich beim Lesen dachte: dass dieses Heft, willentlich und mit den Mitteln von vor zehn Jahren, den Ist-Zustand der Deutschen Lifestyle-Zeitschriftenlandschaft aufzeigen sollte. Dann wäre diese Tempo-Ausgabe tatsächlich der ganz große Wurf.

lesenswert Links zum Thema:

Stefan im Zeitschriftenblog:
www.zeitschriftenblog.de

Reinhard Mohr im:
Spiegel

Umfassende Tempo-Retrospektive in Popkulturjunkies neuem Blog:
www.retromedia.de

Bettina Röhl über die Tempo-Jahre, mit vielen schönen Fotos:
RöhlBlog

Don Dahlmann:
hier

... Link


Sonntag, 10. Dezember 2006
Noch eine Woche!

Und zum Friseur müsste ich auch mal wieder, ich hab schon langsam Liedermacherhaare. Dachte ich heute morgen im Bad, trat unfrisiert vors Haus und dann das da:

Das ist nicht Hamburg. Och nö, nicht schon wieder. El Quiosco. Regelmäßige Leser meines Blogs wissen es schon: immer wenn die Kopfzeile spanisch tönt, dann ist schlechte Laune galore angesagt, mitleidheischendes Depressionsgeschreibsel, zornesrote Restaurantkritiken über katalanischer Tapas-Butzen, der ganz große Seufzer eben. Diesmal schreib ich aber vielleicht auch nix, denn ich bin Gott sei Dank nur eine knappe Woche auf Montage. Positiv gestimmt Blicke ich nach vorn und mache darum sicherheitshalber heute schon mal auf den nächsten Sonntag aufmerksam. Wenn nämlich das Flugzeug nicht abstürzt, koche ich sofort nach meiner Rückkehr 25 Liter Glühwein und schmeiße mit 10 Kilogramm Weihnachtgebäck um mich. Das mach ich nicht alleine, sondern mit Freunden, vor Publikum und mit zehn brillanten Autoren, weil Weihnachtsgebäck werfen nicht gerade abendfüllend ist:

KAFFEE.SATZ.LESEN-Weihnachts-Spezial "LEISE RIESELT..."

Auch in diesem Jahr laden wir wieder zum legendären KAFFEE.SATZ.LESEN-Weihnachts-Spezial. Zehn Autoren der vergangenen KAFFEE.SATZ.LESEN-Saison haben exklusiv für die Weihnachtsausgabe der Lesereihe einen jeweils fünfminütigen Text geschrieben. Die Themenvorgabe in diesem Jahr war für alle Autoren:

"LEISE RIESELT..."

und dieses Jahr beschenken uns:

Ina Bruchlos
Maximilian „Merlix“ Buddenbohm
Eric Hegmann
Sven Heine
Almut Klotz
Mequito
Andreas Münzner
Xochil A. Schütz
Annette Schwarz
Johanna Wack

Dazu spendieren wir dem Publikum 10 kg Weihnachtsgebäck und 25 Liter feinsten Glühwein. Ein schnelles, spannendes und überraschendes Vorlesevergnügen. Das Weihnachtsspezial gehört zu den beliebtesten Veranstaltung im KAFFEE.SATZ.LESEN-Jahr, frühes Erscheinen wird empfohlen. Einlass ist ab 15:00 Uhr, die Lesung beginnt um 16:00 Uhr.

Sonntag, 17.12.2006
Baderanstalt
Hammer Steindamm 62
neben S-Bahn Hasselbrook
im Hinterhof, 5. Stock
5 Euro

Und für alle die noch kein Weihnachtsgeschenk haben, empfehle ich wärmstens die neue Anthologie zur Lesereihe, da kann man nix falsch machen. Sogar meine Schwieger-Oma sagte neulich, wie sehr sie und Opa doch von der Lektüre profitiert hätten: „Ihr jungen Menschen habt so eine reiche Sprache, viele Kraftausdrücke kannten wir noch gar nicht!“:


(Coverfoto drücken und portofrei ins Haus liefern lassen)

Noch eine Woche. Ich ergehe mich jetzt wieder in Selbstmitleid und freue mich auf den nächsten Sonntag, sollten wir uns sehen, bitte ich schon jetzt um Entschuldigung: zum Friseur schaffe ich es nicht mehr.

... Link