Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Sonntag, 28. Dezember 2008
2008 - Das Jahr in dem die Blogs einschliefen.

An Stelle des üblichen Jahresendstöckchens oder der interessanten Liste aller in 2008 gelesenen Bücher, möchte ich diesmal zum Jahreswechsel einfach sehr persönlich auf das Blog-Jahr zurück blicken. Schön wars ja nicht. Das langsame Einschlafen vieler Blogs ist mir ein großer Kummer. Überall rückgängige Leserzahlen, immer seltener die Beiträge und immer weniger Updates, einige Blogger verabschiedeten sich in diesem Jahr gänzlich ins offline.

2008 konnte ich meiner Blogroll beim austrocknen zuschauen. Die erste und auch die zweite Begeisterung über die Kommunikationsform Blog ist verflogen, es mag das Microblogging sein, das zur Vertwitterung und Schließung ganzer Blogs führte, vielleicht aber auch nur eine wachsende Unlust verbunden mit der Erkenntnis, dass auch Online-Lebenszeit begrenzt ist und Bloggen Mühe macht.

Umso mehr ist jenen Menschen zu Danken, die nach wie vor ihre Zeit und Kreativität verschwenden, sich anderer Leute Köpfe zerbrechen und unsere Horizonte erweitern. Liebe Anke, ich wünschte Du würdest wenigstens einmal im Jahr Kommentare zulassen, um mir Gelegenheit zu geben Danke zu sagen. So tu ich das jetzt von hier aus und rufe Dir meinen Dank rüber für ein weiteres Jahr bereichernde Popkultur, filmische Erkenntnisse und Einblicke, sowie jede Menge geschmackssichere Links und schöne Geschichten. Herrn Niggemeier ist ebenfalls außerordentlich zu danken, fürs lesenswerte Fernsehlexikon (gemeinsam mit Michael Reufsteck und Jochen Stöckle), wie auch für sein Niggemeier Blog, für besten Onlinejournalismus, fürs Dranbleiben an Geschichten.

Danken möchte ich auch Kid37 dessen wunderbares, melancholisch bis schwermütiges, Blog eine Fundgrube ist, voll von literarischen Kurzstückchen, große Kunst und klugen Gedanken. Viel gelacht habe ich auch in diesem Jahr wieder mit Frau Julie und Merlix, danke! Ednett schrieb auch 2008 wieder gegen Zeitknappheit und technische Katastrophen an, sein Schoene Toene ist mir erste Wahl wenn es um das schwierige Thema „Weltmusik“ geht. Danke, Ed, für sehr, sehr viele schöne Bands und Alben die ich durch Sie kennen gelernt habe.

Überhaupt Musik! Ganz neu in meiner Blogroll und schon nicht mehr weg zu denken: Audioporncentral, das Music-Blog des Ungarn Simon Iddol, wahrscheinlich eines der besten Musikblogs der Welt, mit unfassbarem Update-Tempo dank fleißiger Redaktion. Simon, maximum respect & thank you for the music, audioporncentral made my year! Vom coolness-Faktor kommt da eigentlich nur noch Nerdcore ran, große Unterhaltung und tatsächlich: "very cool stuff!"

Wo es online schwächelte, war das Blogleben offline eine Bereicherung, mit vielen Bloggern treffe ich mich mittlerweile privat häufiger als neue Blogbeiträge zu lesen sind. Blogger waren Gäste unserer Lesereihe KAFFEE.SATZ.LESEN, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Mit anderen Bloggern war ich zu Gast bei Isabo und Merlix Bloglesung Bar4.0und las mit wieder anderen Bloggern auf dem von Cem und Merlix organisierten Wordcamp08 vor Zuhörern die während der Vorträge ungerührt weiter in die Laptoptasten hieben, für einen Autor eine so seltene wie spannende Erfahrung. Ich war auf der fresspublica08, dem großen Foodbloggertreffen in Frankfurt und habe dort 40 leidenschaftlich begeisterte Genießer kennen gelernt, bei feuriger Fachsimpelei und hessischer Hochküche in Fresssacks Gasthaus zum Goldenen Engel. Vielen Dank, das war toll mit Euch! Und nicht zuletzt wurde ich von der Künstlerin Katia Kelm im Rahmen ihrer Bloggerportrait-Reihe geknetet. Hammer!

Auch ich hatte 2008 den Blog-Blues. Die Kiosk-eigene Mischung aus Musik, Literatur und Kulinarik funktionierte für mich so nicht mehr. Auch waren die erzählbaren Lebensgeschichten erzählt und die Alltagsgeräusche meines Lebens empfinde ich als nicht erzählenswert. Ordinary life langweilt schnell und die richtig guten Geschichten fallen oft genug der im Internet so wichtigen Diskretion zum Opfer.

Im April ging ich mit NutriCulinary an den Start, der Kiosk-eigenen Küche, um den Schwerpunkt Kulinarik stärker auszubauen. Der Kiosk wird immer mehr zum Musikblog mit wenigen Zwischenbeiträgen zur Literatur. Mir gefällt diese Entwicklung sehr, ich fühl mich wohl mit den neuen, klar umrissenen Themengebieten, ich habe wieder große Lust und Freude am Bloggen. Aus dem kunterbunten Kiosk sind 2008 zwei „Fachblogs“ geworden.

Für den Kiosk selbst reduzierten sich dadurch die, im Laufe der letzten Jahre halbierten Leserzahlen nochmals um ein gutes Drittel. Der Kiosk wird jetzt also (hochexklusiv) von nur noch sehr wenigen, aber Augenscheinlich extrem treuen Leserinnen und Lesern gelesen. Auch mit dieser Entwicklung fühle ich mich wohl. NutriCulinary erfährt dagegen ständig wachsendes Interesse und wird mittlerweile von mehr Menschen gelesen, als der Kiosk zu seinen Hochzeiten. Hier wirkten Themenkonzentration plus Auslagerung zu wordpress genau gegensätzlich. Es ist ganz klar: ich werde gerne gelesen, sonst könnte ich in Notizbücher schreiben. Darum gilt für den Kioks und NutriCulinary gleichermaßen:

Danke für Ihre Zeit und Ihr Interesse!

Für 2009 wünsche ich Ihnen und mir, dass dieses ganze Blogdings wieder zunehmend zur lesenswerten Bereicherung wird, ein Mehrwert im Alltag, online wie offline.

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Gelesen: Heimweg von Harald Martenstein

"Als Joseph aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkommt, ist er trotz Lungendurchschuss topfit verglichen mit dem, was sonst noch aus dem Zug steigt. Dass er von seiner Frau Katharina, der schönen Tänzerin vom Rhein, nicht abgeholt wird, überrascht ihn kaum. Er ist Realist. Aber das Eifersuchtsdrama, in das er hineingerät, verblüfft ihn doch ein wenig."

Geschichte entsteht aus Ereignissen, jedes Ereignis ist Resultat vorhergegangener Ereignisse und kündet von dem was kommen mag. Für meine Generation, der um die 1970 Geborenen, sind es die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, in denen Geschichte beginnt eine deutliche und persönliche Relevanz zu entwickeln. Der Beginn einer spürbaren Einflussnahme der Zeitgeschichte, die das eigene Leben bis heute beeinflusst und prägt: die Großeltern die man noch selbst kennen und erleben konnte/kann, die Großeltern die ein Leben nach dem Krieg und mit der Kriegsschuld versuchten, das Land wieder aufbauten, Identität suchten. Und in jener Zeit jene Kinder großzogen und prägten, die unsere Eltern geworden sind. Geschichte, so unmittelbar, nachvollziehbar und formend, beginnt für meine Generation in den Nachkriegsjahren.

Harald Martenstein erzählt in seinem Debütroman „Heimweg“ raffiniert und klug von den Kinderjahren der Republik und dem Fortleben dieser Vergangenheit bis zu den Enkeln. Die Geschichte von Joseph der aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück kehrt und neben der Rückkehr ins Leben auch die verloren gegangene Liebe seiner Frau sucht, ist melancholisch-nüchtern, und voller höchst komischer Momente, detailgenau beschriebene Wirtschaftswunderzeit. Bevölkert von schönstens verschrobenem Personal und Geistern aus Zukunft und Vergangenheit, erzählt der Roman auch und vor allem von der Liebe. Jener Liebe die jugendfrisch hell entflammt und wie ein Sturm für kurze Zeit tobt. Aber auch jener Liebe die, kaum spürbar mehr, verlangt sie ein Leben lang zu leben.

Ein wunderbarer Roman, spannend und vergnüglich, anrührend und komisch. Heimweg liest sich wunderbar leicht weg und hallt doch lange nach.

Heimweg
Harald Martenstein
C. Bertelsmann Verlag, München 2007
ISBN-10 357000953X
ISBN-13 9783570009536
Gebunden, 224 Seiten, 18,00 EUR

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