Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Donnerstag, 24. April 2008
Herr Paulsen geht aus: Chumbawamba-„Acoustic Tour“, Schlachthof, Bremen


(mit Akordeonspieler auf Tour: das Chumbawamba-Acoustic-Team, Foto:chumba.com)

Meine Generation: schleichendes Ergrauen in Converse-Turnschuhen. Ich sitze in der Abendsonne vor dem Schlachthof in Bremen, gleich spielen Chumbawamba, es gibt schlimmere Feierabende, unterwegs. Aus meiner Bierflasche ziehe ich die Erkenntnis dass Chumbawamba eine Band sind, die zumindest mein Leben zur keiner Zeit aus dem Musikregal geworfen hat. Mit großer Belustigung stelle ich fest, dass ich im Schnitt alle sechs Jahre ein Chumbawamba-Konzert besuche und dass meine Leben, seit ich mir einen eigenen Musikgeschmack gönne, komplett mit Chumbawamba-Auftritten verortet werden kann:

Das erste Konzert, noch minderjährig, heißes Herz und wildes Haar, in einem Jugendhaus in der schwäbischen Provinz. Später, mit Holzfällerjacke und raspelkurz geschorenem Haar im SO36, Berlin, wutentbrannt, die Welt anschreiend. Irgendwann Hamburg, Chumbawamba in der Großen Freiheit, St. Pauli steigt auf, alles locker, Aufbruchstimmung, oléee, olé, olé, oléee! Und heute Abend Handlungsreisender in Bremen, mit Leinensakko (knittert edel!) und Chumabwamba spielen ein Acoustic-Set (menno!) für meinen Jahrgang. Zumindest haben alle gelernt, dass Turnschuhe am Abend schwarz sein sollten.

Der Schlachthof ist nicht bestuhlt, es zieht sich aber zwanghaft eine Steintribüne bis zu Hallendecke hinauf, schwappt bis fast vor die Bühne, auf der steht Bettina Schelken, so steht es auf der Eintrittskarte, ich hab natürlich schon tagsüber im Internet gespickt: Bettina Schelken kommt aus der Schweiz und macht Folkmusik, Teile von Chumbawamba haben ihr Debüt produziert („Ich war wie ein Radio, ich habe solange gespielt, bis sie es mochten“). Ich wünsche Bettina Schelken alles Gute, es ist wunderbare Musik, es sind gute Texte, es erreicht mich nicht, ich muss mich entschuldigen.

Weil ich mich nicht setzen will auf Konzerten (also wirklich, da weigere ich mich immer noch), stehe ich an der Bar. Immer stehen die guten Leute an der Bar. Boff Whalley zum Beispiel, genau neben mir, er ist sehr dünn, ich würde gerne was Leckeres kochen für ihn. Jude Abbott steht auch neben mir, sie wird nicht älter. Für Neil Ferguson sollte ich sogar dringend mal was kochen.

Von der Bar aus kann ich den Merchandising-Stand sehen, dahinter sitzt Lou Watts. Sie trägt ein T-Shirt auf dem steht „I sing like a girl“. Sie trägt eine schwarze, rechteckige Hornbrille und liest ein Buch dessen Schutzumschlag sie entfernt hat. Niemand weiß welches Buch Lou Watt liest, niemand kauft T-Shirts.

Umbaupause. Jetzt bin nur noch ich an der Bar. Und eine Frau im Rollstuhl. Sie ist sehr klein. Sehr, sehr klein. Auch der Rollstuhl, alles winzig. „Hallo-ho!“ ruft die kleine Frau. „Huch!“ sagt die Bedienung und beugt sich auf Verdacht über den Tresen hinunter in Richtung Geräusch, „Ach Du liebes Lieschen!“, ruft die Bedienung überrascht, „sie hab ich ja gar nicht gesehen!“ „Können sie ja auch gar nicht!“ antwortet die sehr keine Frau, so als spräche sie mit einem sehr kleinen Kind ohne Verstand, und weiter: „zwei große Bier bitte!“

Chumbawamba betreten die Bühne, fünf brillante Musiker, fünf große Stimmen, zwei Gitarren, ein Akkordeon, eine Trompete, ein englischer Arbeitersong von 1840 („Song on the time“), der Chor ist von einer Schönheit, der sofort das Herz ergreift (herzergreifend), glasklar der Gesang, meine Güte, ich fang doch jetzt bitte nicht an zu heulen. Ich hab jedenfalls irgendwas in beiden Augen. „Sing about Love“, ein Song über die Unmöglichkeit Liebeslieder zu singen, macht es auch nicht wirklich besser, das Augenproblem.

Seit 2005 touren Chumbawamba mit reduziertem Personal. Aus dem Acoustic-Team heraus entstanden sowohl Chumbawambas großartiges 2008er Album „The Boy Bands have won“ als auch das „Get on with it live“-Album, die wir beide in Teilen zu hören bekommen, „Add me“ zum Beispiel, den fröhlichen Internet-Community-Song für mySpace-Freunde und vom vorletzten Album „On eBay“ („from Babylon to Babylon“), Songs die daran erinnern, dass Chumbawamba, neben Zeitkritik, immer auch für feinsten britischer Humor und tiefe Ironie standen, verpackt in geschmeidigste Melodien und schwebende Harmonien.

Immer politisch erzählen Chumbawamba auch die Geschichte und Musikgeschichte der Linken in Europa, Protestsongs, Arbeiterlieder, Huldigungen an verstorbene Denker, Dichter („Brechthold Bird!“) und Kämpfer. Durch die Acoustic-Besetzung tönt alles noch intimer, zarte, kräftige, traurige Gesänge, ein Kammerchor, ein Arbeiterchor, ein Sklavenchor, ein Kirchenchor den der Teufel reitet. Entschleunigung und Reduktion.
Zwischendurch moderiert Jude Abbott die Songfolgen auf überraschend gutes Deutsch, Boff erzählt charmant, es wird viel gelacht. Ein Abend unter Freunden.

Dann kommt „Timebomb“. Akustisch! Meine Güte ist das groß! Riesen Geklatsche, nee was waren wir jung, und der Herr Paulsen natürlich wieder Taschentuch-Alarm, ach herrlich Kinners, muss ja auch mal sein! Während die meisten von uns die letzten fünfundzwanzig Jahre darauf verwand haben, wahlweise reich, berühmt und/oder wenigstens ein bisschen geliebt zu werden, haben es die Menschen da oben auf der Bühne geschafft, zusammen zu bleiben, politisch zu bleiben, große Musik zu schreiben, unzählige Platten zu veröffentlichten, mindestens alle sechs Jahre auch mal in meiner Nähe live aufzutreten und überhaupt: Eine Band die ihr Konzert mit einem Schmähgesang auf ihre Königin, dem italienischen Tragik-Schmachtfetzen „Bella Ciao“ sowie einer wunderbar verschleppten A-Capella-Version von The Clashs „Bank Robber“ beendet, gehört einfach geliebt.

Wenn alles so richtig, richtig, richtig gut läuft („Alter! Du kannst mich also sehen UND hören? Und noch selber laufen? Krass! Und das mit 98!“), kann ich, dem sechs Jahres-Prinzip folgend, noch zehn Chumbawamba-Konzerte besuchen. Glauben Sie mir, ich werde bei jedem Einzelnen dabei sein.

Chumbawamba Acoustic Tour:

24.04.08 Osnabrück (DE) - Rosenhof
25.04.08 Geislingen (DE) - Rätsche im Schlachthof
26.04.08 Düsseldorf (DE) - Savoy Theater
27.04.08 Straubing (DE) - Cairo

(November Tour Dates - more to come ...)

13.11.2008 Dornbirn (A) - Spielboden
14.11.2008 Salzburg (A) - Arge Kultur
15.11.2008 Wien (A) - Wuk
16.11.2008 Budapest (H) - A38

Links zum Thema:

Chumba…wer?:
http://de.wikipedia.org/wiki/Chumbawamba

Offizielle Seite der Band:
http://www.chumba.com/

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