Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Donnerstag, 16. November 2006
Greisenzeitgeistreise mit den TEMPO-Zombies

Ein Trauerspiel was Benjamin von Stuckrad-Barre und Moritz von Uslar am Montag im ausverkauften Malersaal des Hamburger Schauspielhauses aufführten. Angereist waren die beiden um das Werbetrömmelchen zu schlagen, für das, vielleicht am 1. Dezember erscheinende, Jubiläumsheft der vor zehn Jahren verstorbenen Zeitgeist-Postille TEMPO. Der damalige Chefredakteur Markus Peichl bastelt derzeit mit großen Teilen des alten Redaktionsstabs an einer einmaligen Wiederbelebung des Heftes. Schade, dass er Stuckrad-Barre und Uslar an diesem Abend freigab. Die lasen ein „Best of Tempo“ und mit fortlaufender Dauer auch den Malersaal leer.
Los ging es mit einer nicht enden wollenden Aneinanderreihung von TEMPO-Schlagzeilen, ein Kalauer-Kabinett der Unlustigkeit. Wie relevant ein 1988 geschriebener Artikel über die 68er heute ist, das fragten sich dann die ersten Flüchtenden. 2006 ist dazu jedenfalls alles gesagt, gelesen und gesehen, Schnee von gestern, nicht mal als vergnügliche Geschichtsstunde taugte das Altpapier. Auch der uralte Beitrag über den Aufstieg des Bildchefs Kai Diekmann lässt jeden gähnen, der sich auch nur ein bisschen für die Deutsche Medienlandschaft interessiert.
Doch es wurde schlimmer. In großen Teilen wurde eine Liste der nervigsten 100 Deutschen vorgelesen. Und da schimmerte hervor, für was TEMPO auch stand. Für die Geburtsstunde der Popliteratur, für das salonfähig gewordene Motiv, alle und alles immer ganz lustig ganz scheiße zu finden. Die maulstarken Krakeeler beömmelten sich über ihre Zeitgenossen, „bruhaha“ lachten die Leser damals über soviel anarchisches Zeitverständnis. Hier und heute im Malersaal macht es wenig Sinn, Roberto Blanco als Vorzeigeneger der Deutschen zu titulieren, das mag mal ein Tabubruch gewesen sein, jetzt ist das so unterhaltsam wie ein echauffierender Artikel über die Unpünktlichkeit der Bahn oder die immer früher auftauchenden Weihnachtsgebäcke. Na gut, sie haben es erfunden, it´s all about Selbstfeierei.100 Altherrenwitze in lähmenden 20 Minuten. Aber die Auswahl der Herren Stuckrad-Barre und Uslar war konsequent. Wer verbal auf Menschen einschlägt die sowieso schon am Boden liegen, der macht auch bei den Toten nicht halt und so wurden an diesem Abend auch Hannelore Kohl („sieht aus wie schlechtes LSD“) und der Verleger Rudolf Augstein („ich bin klein, hässlich und reich“) postum beleidigt und verunglimpft.

„Höhöhö“ und „hohoho“ machte das verbliebene Publikum, dieses Lachen hinter vorgehaltener Hand, dieses „boah, ganz schön frech, hihi!“ Und das war dann auch die einzige Überraschung des Abends, dass sich weder die Herrschaften auf der Bühne, noch ihr Publikum, in ihrem Humorverständnis auch nur einen Schritt weiter entwickelt zu haben schienen, in all den Jahren. Bleibt zu hoffen, dass sich die derzeitige TEMPO-Redaktion wenigstens neu erfindet. Ansonsten, auch nicht schlimm, bekommt das Publikum im Dezember eben die Zeitschrift, die es versteht und verdient.

Nach „100 Zeilen Hass“ von Maxim Biller, über den damals 31 jährigen Ulrich Tukur, verließ auch ich die Veranstaltung. Nicht aus Protest, sondern schlicht aus Langeweile. Im Foyer, dem bierseligen Flüchtlingscamp der Gelangweilten, erntete ich großen Applaus, man lobte, wie lange ich doch durchgehalten hätte. Ein Spätgeborener fragte mich, ob es vielleicht unterhaltsamer sei, wenn man das alles selbst erlebt und mitbekommen hätte. Ich verneinte. Dann erst recht nicht.

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