Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Dienstag, 26. September 2006
Ich habe keine Ahnung wer Sie sind.


Schwarzes Loch, sehr groß

So wie da oben auf dem hübschen Foto sieht es manchmal, nein, also ehrlich gesagt, sehr oft in meinem Kopf aus. Immer dann, wenn Menschen freudestrahlend auf mich zugeschossen kommen, laut rufen: „Herr Paulsen!“, oder „Paulsen!“, mich drücken, küssen (!), Hände schütteln und ich keine Ahnung habe, wie diese Menschen heißen. Ich lerne, beruflich sehr viele Menschen kennen und auch im Privatleben bin ich viel unterwegs. Das ist nicht sehr hilfreich für mein Namenmerkproblem und ich gerate in schlimme Situationen. Vor ein paar Monaten zum Beispiel, hieb ich auf einem Empfang dem Abteilungsleiter eines Deutschen Riesen-Lebensmittel-Konzerns, der mich namentlich angesprochen hatte, kumpelhaft auf die Schulter und rief: „Na, Alter was geht!“. Irrtümlich hatte ich ihn für einen Praktikanten aus einem Fotostudio gehalten. Der Mann reagierte souverän, erklärte mir dass unsere vergangene Zusammenarbeit sich maßgeblich positiv auf die Verkaufszahlen seines Produktes ausgewirkt habe und buchte mich nie wieder. Was trägt der Mann auch Jeans und Second Hand-Sakko!

Die Liebste hilft gerne, wenn sie kann. Zum Beispiel flüstert sie mir auf Partys schnell die Namen der nahenden Grußwilligen in Ohr. Müssen sich diese zur Begrüßung durch eine Menschenmenge kämpfen, nutzen wir die Zeit und ich bekomme auch noch biographische Daten geflüstert. So gelang mir neulich ein schöner Triumph auf einer Party: „Hallo Torben, sach ma, wir haben uns ja 2004 das letzte Mal bei Fabiola-Clémetines dreißigstem Geburtstag in Hinteraichstetten gesehen! Wie war die letzte Saison Deines Footballteams Rammelschweine04 und bist Du eigentlich noch bei der Agentur Neurath, Gummersbein & Adelmey? Und wo ist denn heute Deine bezaubernde Freundin Franziska-Juliane-Elsbeth?"
Torben war auf der Stelle sehr beschämt und gestand mir, er könne sich jetzt nicht mal mehr an meinen Namen erinnern. „Macht nichts!“ rief ich, generös lachend, „kenn ich, hahahaha, Paulsen, angenehm!“
Ich schämte mich später sehr.

Nur leider ist die Liebste nicht immer neben mir und so muss ich leben mit meiner Behinderung, gelte bei den Menschen als maulfaul, unhöflich, introvertiert. Undankbares Pack! Schließlich müssen die sich alle nur einen Namen merken, meinen. Ich aber soll sie alle kennen. Das ist nicht fair.

Warum erzähle ich das alles eigentlich? Nun, eben, ich befand mich auf dem Heimweg, da schlenderten mir drei Frauen entgegen. Ich kuckte so rum, bemerkte dass mich eine der Frauen länger ansah und sah mal auf Verdacht zurück. Gerade hatte ich die Gruppe passiert, da hörte ich die Frau vorwurfsvoll grummeln: „Na, der Paulsen, der erkennt mich nicht!“ Ich wirbelte herum, wir standen uns in gebührendem Abstand gegenüber und starrten einander an. Stille. Ich erkannte sofort, die Frau hat Recht. Nicht nur keinen Namen, nein, ich erkannte diese Frau nicht, ich war (und bin es noch) fest davon überzeugt diese Frau überhaupt nicht zu kennen. So standen wir da. Aus Sekunden wurden Stunden, die Dreiergruppe erwartete eine Reaktion. Ich überlegte. Soll ich jetzt die Hand vor die Stirn schlagen und fröhlich Entschuldigungen murmelnd auf die Dame zugehen? Das kann ich prima, das funktioniert aber nur wenn ich nur den Namen vergessen habe, das anschließenden Gespräch ist oft erhellend. Hier hatte ich aber scheinbar die gesamte Frau vergessen. Wir standen immer noch. Ich ging langsam rückwärts. Die Dame seufzte schwer. Plötzlich schnellte doch noch meine Hand zur Stirn, ganz automatisch, aber zu spät. „Macht ja nichts, Paulsen.“ sagte sie mit leiser Stimme und die Frauen gingen ihres Weges.

Und da war es wieder:

Saugt Namen ein. Und jetzt auch ganze Personen. Es wird schlimmer. Nicht böse sein.

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