Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Donnerstag, 27. Oktober 2005
Lundkovall oder wie ich mal fast meinen ersten Roman geschrieben hätte

Gestern stieß ich auf die Seite einer ganz wahnsinnigen Literaturveranstaltung, dem NaNoWriMo, dem National Novel Writing Month. Menschen aus der ganzen Welt melden sich dort an, um im November, mal eben so, einen Roman zu schreiben. Kickoff für das mindestens 50.000 Worte umfassende Werk ist der 1. November 2005 um Mitternacht (Ortszeit) bis zum 30. November um Mitternacht sollte man fertig sein. Also zum besseren Verständnis, die schreiben da nicht alle an einem Roman, sondern jeder Teilnehmer versucht einen Roman zu schreiben. Zu Gewinnen gibt es nichts, man tritt gegen sich selbst an und die Veranstalter versprechen: "the deadline will do wonderfull things to your willen.". Im letzten Jahr versuchten es 42.000 Menschen! Fast 6.000 von ihnen hatten dreissig Tage später die Ziellinie überschritten.

Eine wunderbar anarchistische Sache, wie ich finde und eine eigenwillige Annährung an die Langstrecken-Literatur. 50.000 Worte, das ist schon eine gigantische Hürde, die Veranstalter versprechen aber, dass das selbst für die arbeitenden Bevölkerung machbar ist.

Jetzt jault mein innerer Schweinehund in der hintersten Ecke meines Herzens, wälzt sich unruhig in Bergen von Kurzgeschichten und Blogbeiträgen und bellt mir ein bedrohliches "Schweden" entgegen. Da habe ich nämlich mal meinen ersten Roman geschrieben. Leider nur fast. Die Aufzeichnungen von damals künden vom schnellen Untergang des Romanschreibers Paulsen:

Lundkovall

Schön ist das hier in Schweden. Rostrot winkt mir das kleine Holzhäuschen zu, einladend blinken die geweißelten Fensterrahmen, flirrendes Birkengrün drumrum, frisch gemäht der satte Rasen, in der Ferne schwappt gemütlich der Asundensee. Herrlich, alles meins für eine Woche. Ich atme tief ein und blase den Rauch meiner Zigarette ins Königsblau des klaren Himmels.

Jawohl, das ist der Platz, hier werde ich schreiben können, ein paar Geschichten vielleicht, ach was, einen Roman werde ich hier schreiben, meinen Ersten, die Gelegenheit beim Schopfe packen, Roman, na klar, muss sich doch auch lohnen die weite Reise. Aber hallo, drunter mach ich es nicht.

Erstmal aber studiere ich die schwarze Informationsmappe, die mir die Wirtsleute zur Begrüßung in die Küche gelegt haben und erfahre, dass meine kleine Dichterkemenate 1955 errichtet wurde, inspiriert vom Schwedischen Maler Carl Larsson. Das stimmt, ja, jetzt erkenn ich es auch, ein Kalender mit Carl Larsson Bildern schmückte einst den Treppenaufgang meines Elternhauses und ich stehe jetzt mitten drin im Kalenderblatt für den Monat Juni.

Meine freundlichen Vermieter haben in der schwarzen Mappe auch ein Kapitel der Nachbarschaftspflege gewidmet und plaudern aus dem Nähkästchen. Im gelben Haus, gleich an der Wegbiegung oberhalb des Hauses leben Sofia und Sulo Kähäri.

Ich lese:
„ Sofia und Sulo sind von russisch-finnischer Herkunft. Beide sprechen ziemlich gut Schwedisch und Sulo spricht/versteht ein bisschen Deutsch. Er hat einmal im Russisch-Deutschen Krieg in Finnland und Baltikum teilgenommen. Er hat gute und schlechte Erinnerungen davon und großes Bedürfnis darüber zu sprechen.“

Sulo ist gerade nirgends zu sehen und ich baue meinen Schreibtisch auf, ein weißer Stuhl auf die Veranda, den Holztisch richte ich zum Wald hin aus. Hinter meinem Schreibtisch leuchtet es gelb-blau in den Schwedischen Nationalfarben, dicht an dicht, Blüte an Blüte steht der „schwedische Soldat“. „Lundkovall“ sagen die Schweden, ein seltenes, prachtvolles Blütengewächs und der Stolz eines jeden patriotischen Gärtners, verrät die schwarze Mappe.

Ich bin ein moderner Dichter und schaffe jetzt auch mein Laptop ins Freie. Es gibt eine Strombuchse! Am Haus! Routiniert eingesteckt, drücke ich das Startköpfchen, die Willkommensfanfare erklingt durch die Stille des Waldes. Hier bin ich spricht das Laptop. Nur sehen tue ich nichts. Schemenhafte Ahnungen von Bedienungsleisten schimmern matt durchs Bildschirmgrau. Ich nehme die Sonnenbrille ab. Die Lage verschlechtert sich. Ungeduldig reiße ich am Bildschirmdeckel, es knarrt nur und will nicht heller werden.
Aus dem Geräteschuppen zerre ich einen pilzbefleckten Sonnenschirm, bleibt der Dichter eben blass, glänzen soll allein das Display und später mal der Text. Der Sonnenschirm ist aufgestellt, der Blick zum Wald leider verstellt, aber vereinzelte Menüoptionen sind jetzt doch zu erkennen. Wie durch ein Milchglas und auch nur wenn ich ganz nah rangehe. Es gelingt mir die Schriftgröße auf zwanzig einzustellen, ebenso gebe ich Befehl alles fett zu schreiben und jetzt ein Test, ja es kann losgehen. Nur den Cursor den darf ich nicht verlieren im Elektromatsch. Ich lehne mich zurück, zünde mir eine Zigarette an und warte darauf, das die Geister toter schwedischer Dichter neben mir Platz nehmen um mir einen hübschen Roman einzuflüstern. Wäre nicht der Sonnenschirm, ich könnte während des Wartens das Waldesgrün studieren.

Ich koche mir noch schnell einen Kaffee. Ich schiebe die Maus fahrig auf der blauen Wachsdecke hin und her. Wo ist nur der Cursor hingerutscht? Und was riecht den hier so komisch? Von hinten duftet, wenig soldatisch, „Lundkovall“, schwer wabbern Wolken, die an ältere Damen erinnern, an Veilchen und Zuckerwatte. Es brummt auch ganz ordentlich. Patriotisch eingestellte schwedische Hummeln umschwärmen zunächst artgerecht „lundkovall“, dann meinen Kaffe und schließlich mich. In der schwarzen Mappe steht nichts von Hummeln und ob die stechen oder nicht, Erinnerungen an den Biologieunterricht sind nur in Spuren, äußerst schemenhaft vorhanden, mein Wissen um die Gefährlichkeit der gemeinen schwedischen Hummeln liegt im dunkel wie mein Laptop-Bildschirm.

Wollen Sie den Computer jetzt wirklich ausschalten?
Ja.
Tagsüber sollten Dichter an Seen lustwandeln, Rilke hat das gemacht und Goethe war ja praktisch nur am Lustwandeln. Dauernd. Von Camus, heißt es er sei oft tagelang....ich hole mein Badezeug.

Schon gleich zehn und es ist immer noch hell. Toll dieser Midsommar! Die Hummeln schlafen schon, ich habe gut gegessen, ein Glas Rotwein nehme ich mit an meinen Outdoorschreibtisch, jetzt soll es gelingen! Kein Sonnenschirm steht mehr zwischen dem Wald und mir, die Sicht ist frei auf inspirierendes Grün, Vögel singen ein Abendlied und lustig tanzende Wolken kommen näher. Den ganzen weiten Weg von den romantisch schilffbedeckten Ufersümpfen des Sees, bis direkt in meine kleine Schreibwerkstatt sind sie geflogen. Tausende. Mücken. Die Großen zeigen den Kleinen wo ich am besten zu stechen sei. Ich entzünde Räucherwerk, vergebens, ich renne armwedelnd ins Haus und kurze Zeit später verschwindet der Laptop-Bildschirm in todbringendem Mücken-Ex. So was sieht man nie auf Bildern von Carl Larsson. Feiner Chemienebel kratzt im Hals, senkt sich auf Wein und Schreibwut, vom Feind tönt surrendes Gelächter. Gerade als ich ein bisschen schluchzen möchte, in die Einsamkeit der Schwedischen Mischwälder, da knackt es im Gehölz, Lundkovall wird niedergetrampelt und da steht ein sehr alter Mann auf meiner Terrasse. Sein Haar ist strähnig streng gescheitelt auf dem kantigen Kopf, zwischen grau-gelben Barthaaren lächeln vier Zähne aus einer schwarzen Höhle. In der einen Hand hält der Mann eine Flasche Wodka, die andere ist ausgestreckt zum Gruß.
„ Jag är Sulo,“ sagt Sulo und fischt zwei Gläser aus der Manteltasche.
Ich gebe auf.

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