Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
Samstag, 23. Juli 2005
Zähneknirschend in die selbst gewählte Bürgerlichkeit
herr paulsen
13:03h
Seit Oktober vergangenen Jahres suchten die Liebste und ich eine neue, gemeinsame, große Wohnung. Unsere Leidensgeschichte ist teilweise in diesem Blog beschrieben und endet heute hier. Wir haben nämlich unsere Traumwohnung gefunden, den Mietvertrag unterschrieben und im September ziehen wir ein. Jetzt denkt man sich eventuell der Herr Paulsen flitzt nackig, den Mietvertrag wedelnd durch die Innenstadt oder freut sich sonst wie über den glücklichen Ausgang der scheinbar endlosen Sucherei. Nein, ich sitze Zuhause, bin komplett angezogen, mit wehmütigem Blick blicke ich aus dem Fenster in den Nieselregen und flüstere leise: „Ja, ne toll, ja doch, ne echt ich freu mich.“ Es ist der Abschied, der gewichtig auf meinen schmalen Schultern Platz genommen hat, der Abschied von meiner alten Wohnung, der Abschied von meinem Kiez. Acht Jahre lang habe ich hier gelebt, in einer hellen 52 qm großen drei Zimmerwohnung, mit einem malerischen Balkon, einem schönen Garten mit eigenen Kräutern, ganz ruhig in einer Sackstrasse gelegen. Gelebt habe ich dort am Rande des Schanzenviertels, direkt am Park und geliebt habe ich das Schanzenviertel und wer je im Schanzenviertel wohnte, wird begreifen, dass dies auch ein Abschied von einem Lebensgefühl oder wahlweise einem sehr schönen Lebensabschnitt ist. Das ist eigentlich das schlimmste, der Abschied von „meinem Kiez“. Der neue Kiez ist bedrückend bürgerlich, sandgestrahlte Altbauschönheiten reihen sich wie Perlenketten aneinander, die Bewohner sind ehemals SPD-bewegte Mittelständler mittleren Alters (überhaupt ist hier vieles mittel, mittig, mitte), die sich fusselige Pullover über das Krokodil-Shirt werfen, mit geflochtenen Weidekörben einkaufen gehen und beim Türken oder Italiener auf türkisch oder italienisch bestellen und sich dabei unglaublich weltbürgerlich, zumindest aber sagenhaft europäisch vorkommen. Manchmal lesen sie noch heimlich die TAZ, beim Tee trinken im Café, aber nur ganz kurz und kopfschüttelnd. Die Frauen fahren in globigen Geländewagen ihre 1,2 Kinder zum Reiten, Schwimmen, Ballett. Selbst machen sie Yoga oder walken mit Freundinnen durchs Viertel, weil’s Abends Lätta schmeckt. Viele haben früher mal in der Schanze gewohnt. Solch eine spöttische Betrachtung kann man auch über die Bewohner der Schanze schreiben und außerdem sind das alles Vorurteile und Überspitzungen, trotzdem, mein neuer Kiez ist mir nicht geheuer. Aber die neue Wohnung ist wirklich toll und groß und bezahlbar und irgendwann werde ich mich eingewöhnt haben. Ich, der Berufsjugendlichen. Sagt meine Mutter. Und sie lacht sehr am Telefon, als sie von meiner neuen Adresse erfährt und sagt: „Hahaha und das Du als alter Panka!“ Meine Mutter sagt Panka, wenn sie Punker meint. Ich hab ein Fahrrad. Mit dem bin ich in 6,5 Minuten in der Schanze. Ich schaff das schon. Und den Panka nehme ich einfach mit in die neue Bude, da ist eh Platz für Drei. PS: herrpaulsen@gmx.de ... Link |
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