Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Freitag, 21. Januar 2005
Insomnia, Nachtgespräche & die Füße von Sonja Kraus

Ich habe jetzt mal ein paar Tage am Stück keinen Alkohol getrunken, nicht einen Schluck. Prompt rächt sich mein Körper gnadenlos. Tagsüber gaukelt er mir Vitalität und Belastbarkeit vor. Abends gaukelt er mit Vitalität und Belastbarkeit vor. Und Nachts liege ich Vital und Belastbar wach im Bett. Ich kann nicht einschlafen. Zur Zeit lese ich Sven Regeners zweiten Roman „Neuen Vahr Süd“, vom gesamtdeutschen Feuilleton als „noch besser als Herr Lehmann“ ausgerufen. Ich verrate Ihnen jetzt mal was, das Buch ist so schlecht, dass ich einen alten Romananfang, den ich vor einem Jahr geschrieben und dann verschämt ins Schranknirvana versenkt hatte, jetzt wieder mutig rausgeholt habe. Insofern ist Herrn Regener ja zu danken, leider ist das Buch nur schlecht, nicht einschläfernd. Also habe ich gestern Abend die Glotze eingeschaltet.

Harald Schmidt habe ich freiwillig angesehen. Parallelen zum eben weg gelegten Buch taten sich auf, langweilig aber nicht einschläfernd. Dann: Polylux. Ganz und gar anbetungswürdig, die Sendung, Frau Tita von Hardenberg sowieso, es ist ein Freude. Puls gefühlt. Hellwach. Amtseinführung des Präsidenten. Ich rege mich, politisch korrekt, richtig auf. Jetzt könnte ich aufstehen und mit bloßen Händen anstrengende Erdaushubarbeiten auf einer Baustelle tätigen. Ich rege mich über diesen Zustand derartig auf, das an Schlaf jetzt wirklich nicht mehr zu denken ist.

Und dann lande ich bei einer Sendung die ich noch nie gesehen habe. Domian. Kennt wahrscheinlich jeder, ich sehe das zum ersten Mal. Nach nur zwei Anrufern sitze ich aufrecht im Bett. Soviel Seelenqualen, von der Schuppenflechte über den schwulen Feuerwehrmann (19) aus einem kleinen Dorf, sein Vater ist dort zweiter Brügermeister und weiß von nix und jetzt haben seine Feuerwehrkameraden ihn in Hannover gesehen, Promoveranstaltung für einen Schwulen Laden, er in Frauenkleidern durch die Kneipen. Zwei Anrufe später haben sie mich weich. Augenkniepern setzt bei mir ein, eine Frau erzählt vom prügelnden Ehemann. Dann gibt es die Schilderung einer Kindemisshandlung (Anruferin: „Sie fixierten mich am Bett und stachen mit Nadeln die Brandblasen an meinem Hintern auf. Die Unterwäsche musste mir bei jedem Klogang vom Leib geschnitten werden, weil sie mit dem Eiter verklebte.“. Domian: „Bist Du auch sexuell Misshandelt worden?“. Anruferin: „ Nicht von meinen Eltern. Von meinem Cousin“.

Ich bin immer noch hellwach, das macht mir jetzt aber nicht mehr soviel. Ich bin überwältigt von soviel Leid, von soviel schonungsloser Ehrlichkeit. Mir ist das schon klar, dass es solche Schicksale leider an jeder Ecke gibt, aber diese Vorstellung, dass da Menschen irgendwo Nachts in ihren dunklen Wohnungen am Telefon sitzen und einem Wildfremden von den Schlachten mit ihren Geistern erzählen, erzählen müssen, dazu diese gehörige Portion Voyeurismus meinerseits, das ist alles ein bisschen viel. Aber wie viel besser klingen die Stimmen der Anrufer am Ende des Telefonats! Erleichtert, mutiger. Und alle, alle greifen wie Ertrinkende den letzten Halm, Domians Angebot eines Gespräches mit seinen Psychologen an. Domian erscheint mir glatt, er ist mir nicht sympathisch, aber wau, was leistet dieser Mensch für eine Arbeit! Was leisten jede Nacht die vielen Seelsorgetelefone in Deutschland. Streichen mit fester Hand über die Geschwüre der Seelen die sie nicht heilen, aber zumindest durch diese Nacht bringen können.
Verzeihen Sie meinen pathetischen Ton, aber das ist mein Blog, ich leiste mir hier sowas auch.

Fernsehen kann grausam sein, für den, der den Abschaltknopf nicht findet. Zwischen Klingeltönen und furchterregend entstellten Frauen, die ich jetzt anrufen soll um etwaige Geschwüre im Unterleib per Telefon behandeln zu lassen, lande ich bei der Wiederholung von Rent a Pocher. Eigentlich finde ich den ganz witzig, jetzt nervt er nur und ich frage mich ob der Bub eigentlich Punk oder Soziopath ist. Dann kommt Talk, Talk, Talk mit Sonja Kraus. An Frau Kraus interessieren mich nur die Füße. Und die Schuhe. Einmal, im Sommer da hat sie barfuß moderiert. Ich habs kaum ausgehalten und nach der Hälfte der Sendung hat sich die Liebste sehr über meine Spontanität gefreut. Aber auch das will heute nicht mehr rocken.

Klingeltöne.
Ruf an!
Ich zwinge mich auszuschalten.
Neuen Vahr Süd.

Ich liege wach und denke an Menschen die Nachts in dunklen Wohnungen mit Fremden telefonieren.

Noch vier Stunden.

.......................................ratsch!

Links zum Thema:

Polylux:

http://www.rbb-online.de/_/polylux/index_jsp.html

Domian:

http://www.nachtlager.de/

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