Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
Sonntag, 18. November 2007
Wie die Deutschen den Reggae entdeckten. Das Buch zur Geschichte.
herr paulsen
10:19h
"Mir san mir, an´mir san wicked an´wild!" In ihrem Buch „Reggae in Deutschland“ erzählen Olaf Karnik und Helmut Philipps erstmals die Geschichte der noch sehr jungen deutschen Reggae- Musikkultur. Das Autoren-Duo erklärt den 1. Oktober 1995 zur offiziellen Geburtstunde des deutschen Reggae, jene selbstbewusste, vielförmige Bewegung aus Musikern, Bands, Soundsystems, Produzenten und Journalisten die Deutschland in den vergangenen Jahren in Germaica verwandelt haben. Ich war sogar dabei, an jenem 1. Oktober. Vor dem Fernseher. An diesem Tag lief, im Rahmen der Reihe „Lost in Musik“, auf ARTE ein einstündiges Feature über Reggae in dem, neben der britischen Dub-Szene, auch die Vorreiter der neuen deutschen Reggae-Kultur gezeigt wurden. Die Soundsystems Concrete Jungle aus Berlin und Silly Walks aus Hamburg wurden vorgestellt und ich entdeckten auch diesen dünnen Jungen wieder, den ich mal live auf einem Hafenstraßen-Fest gesehen hatte. Gentleman. Der junge Schlacks aus Köln hatte damals ausdauernd und in fremden Zungen ein Mikrophon besprochen, im Hintergrund lief Reggae und ich war so angetan wie ahnungslos was genau da passierte. Das Arte–Feature war tatsächlich eine Initialzündung für Menschen denen schon damals dämmerte, dass Reggae nicht nur Bob Marley und Kiffen sein musste. Erklärt und gezeigt wurde erstmals was man bislang nur vom Hörensagen kannte. Aber mal Hand aufs rotgelbgrüne Herz: Braucht die Welt tatsächlich ein Buch über die Geschichte einer musikalischen Bewegung die gerade mal 12 Jahre alt ist? Unbedingt, denn die Annäherung der Deutschen an den Reggae beginnt schon 1964 und ist nicht nur eine Geschichte voller Missverständnisse die tief in deutsche Befindlichkeiten blicken lässt, sondern auch eine hochkomische Angelegenheit. Wie da zusammen kommt was so gar nicht zusammen passen will. In drei informativen und vor allem erheiternden Kapiteln erzählt Helmuth Philipps am Anfang des Buches von den Anfängen zwischen 1964 bis 1999. Ich habe sehr gelacht. Los geht es mit der damals 22-jährigen Sängerin Millie Small, die mit „My Boy Lollipop“ den ersten jamaikanischen Off-Beat-Welthit auch nach Deutschland bringt. Warum der noch sehr junge Klaus Doldinger sie mit seiner Band bei einem Auftritt im Hamburger Starclub begleitete und dabei eine blonde Frauenperücke trug, das liest sich vergnüglich. Auch das ausgerechnet die BILD Zeitung den ersten Reggae-Sampler in Deutschland veröffentlichte („Platte auf den Teller und-HEY!-tanzen. Reggae mit Ihrer Sekretärin, Ihrer Freundin oder gar Ihrer Frau.“), ist so überraschend-komisch wie die beigelegte Tanzanleitung: „sich selber (also nicht der Partnerin!) vor die Brust greifen, dabei drei Schritte zur Seite…“ Anstrengend wird Reggae in Deutschland in den Siebzigern. Konservative Hippies, linkspolitische Intellektuelle und elitäre Traditionalisten gönnten sich nicht das Schwarze auf dem Plattenteller, jede der Gruppe idealisiert und ideologisiert Reggae nach eigenem Gusto, der Rest ist Intoleranz. Als Bob Marley 1981 stirbt, gerät Reggae in Deutschland in Vergessenheit. Anfang der Achtziger glaubt man in Deutschland Boney M. oder die Goombay Dance Band seien Reggae. Und Laid Back singen „Sunshine Reggae“ während sich in Ost und West die ersten deutschen Reggae-Pioniere zaghaft ans Werk machen. 1986 dann der erste „Summerjam“, damals noch unter dem Namen „Sunsplash“. Ein kleines, jährliches Reggaefestival das zum Größten in Europa wachsen sollte. Es wird spannend. Reggae wird Ragga, wird Dub, wird Dancehall, Soundsystem- und Clubkultur, Live-Erlebnis, Lebensweise und nicht zuletzt lohnende Investition für die Musikindustrie. Das Buch bietet mehr als nur lesenswerte Geschichte und Anekdoten, es stellt auch viele Macher von damals und heute vor. Interessante Interviews vertiefen die Einblicke in die heutige Reggaeszene. Und nicht zuletzt werden, ganz undogmatisch und nebenbei, Grundbegriffe, Rituale und Semantik der Reggae-Live-Kultur erklärt. Nach Lektüre dieses Buches kann auch der Laie jeden Dancehall und jedes Reggae-Konzert ganz entspannt und fettnapffrei genießen. Karnik und Philipps zeigen lobenswerterweise auch Grenzen der Vereinnahmung jamaikanischer Reggae-Culture auf: den schweren Weg von der Imitation zur emanzipierten, eigenständig und eben deutschen Reggaekultur. Unbequeme Themen des Reggae wie Homophobie, Machismo, Gewalt und Armut werden ebenfalls angesprochen und aufgezeigt. Ganz besonders das Gespräch mit der Redaktion des „Riddim“-Magazins am Ende des Buches, zeigt die interessante Selbstverortung denkender, deutscher Reggae-Fans. Auch über die Zukunft haben die Autoren nachgedacht und bringen den derzeitigen Hype sachlich auf den Punkt. Sollten Zugpferde und Topseller wie Gentleman oder Seeed eines Tages aus dem Blickwinkel der breiten Masse verschwinden, wird Reggae in Deutschland wieder das werden, was er schon seit ein paar Jahren ist: eine lebendige Nischenkultur. Das Buch: Reggae in Deutschland Die Autoren: Olaf Karnik, geboren 1962, lebt und arbeitet in Köln als freier Journalist und Autor, u.a. für »Neue Zürcher Zeitung«, »WDR«, »Deutschlandfunk«, »Intro«. Er ist Buchautor (»Chasin' A Dream. Die Musik des schwarzen Amerika von Soul bis HipHop«, 1989, mit Gerald Hündgen) und realisierte mit Christoph Dreher die Fernsehreihe »Fantastic Voyages«. Er war Redakteur der »Spex«, Musiker der Gruppe »Genf«, und ist seit 20 Jahren DJ. Helmut Philipps, geboren 1953, lebt in Dortmund, arbeitet seit vielen Jahren als Tontechniker für Götz Alsmann und schreibt regelmäßig für das Reggaemagazin »Riddim«. Er selbst gehört zu den Pionieren der Reggae-Szene in Deutschland und hat schon sehr früh als Produzent gearbeitet. Reggae in Deutschland. Eine (unvollständige) Linkliste: Künstler: Les Babacools Bantu Benjie Caramelo Criminal D-Flame Dr. Ring-Ding Dubtari Ganjaman Gentleman Hans Söllner Irie Révoltés I-Shen Rockers Ischen Impossible Jagga Bites Combo Jahcoustix Martin Jondo Mono&Nikitaman Nattyflo Nosliw Ohrbooten Patrice Pow Pow Movement (Soundsystem) Raggabund Sam Ragga Band Sebastian Sturm Seeed Sentinel (Soundsystem) Silly Walks Movement (Soundsystem) Small Axe (Soundsystem) Sound Quake (Soundsytem) Supersonic (Soundsystem) Uwe Banton Zoe Lesenswert: Riddim (das Zentralorgan, größtes Reggae-Magazin Europas): Summerjam (Europas größtes Reggae-Festival am Fühlinger See bei Köln): Reggaemusicguide: Reggae Live-Tipps:
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