Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
Freitag, 19. Januar 2007
Kleine Windeseile in Göttingen
herr paulsen
20:31h
„Achtung, Achtung, dieser Zug wird evakuiert! Bitte verbleiben Sie im Zug bis die Busse zu den Notlagern eintreffen!“ Die Deutsche Bahn übertrifft sich mal wieder selbst in der Kunst der stimmungsvollen Lautsprecherdurchsage. Der Bahnhof ein Basar. Schlaue Krisenmanager lassen sich am Kiosk Wein entkorken, für nachher im Notlager. Fremde Menschen bilden Banden und überfallen Taxen. Hannover? 160 Euro. Hamburg? Unbezahlbar. Wer überfällt hier eigentlich wen? Ein Mercedes Benz fährt vor. Hamburger Kennzeichen. Siegfried Wahnke, Handlungsreisender, guter Mensch. Kommt gerade aus Frankfurt, hat Radio gehört und will jetzt „Kinder“ mitnehmen, nach Hamburg. „Das sind aber große Kinder!“, sagt Siegfried Wahnke, mustert noch einmal die Hamburger Bande und öffnet einladend den Kofferraum. Ich zögere. Ich bin plötzlich fünf Jahre alt. Mama sagt, ich darf nicht bei fremden Männern einsteigen. Als ich wieder 37 Jahre alt bin, sagt ein Feuerwehrmann, er würde da nicht mehr raus fahren. Könnte eine Nacht im Stau werden, oder ein schneller Tod unter einem Lastwagen. Meine Mutter und der Feuerwehrmann haben mich überzeugt, die beiden Schnuckelhasen. Ich wähle die Nummer meines Übernachtungsangebots...tuut...tuut...Die Frau eines Bloggers aus Hamburg. Wir kennen uns von Lesungen. Wir haben Worte gewechselt auf Blogger-Treffen. Ich weiß nicht. Kann man da so einfach auflaufen? Ja gut, es ist Krieg. Ich lebe aber in der ständigen Sorge, jemandem zur Last zu fallen. Selbst bei guten Freunden in fremden Städten nehme ich mir meist ein Hotelzimmer. Meine Gastgeberin hebt den Hörer ab. Genug gedacht. Drei Minuten vom Bahnhof entfernt, ja rechts, rechts, links, ja, klar wir können noch was essen gehen, das musst Du jetzt nicht am Bahnhof, nein, nein, einfach kommen, kein Problem. Der Empfang ist herzlich. Frauen-WG. Sie ist schwanger, zieht bald nach Hamburg zum Mann, endlich. Schwanger! Wusste ich doch schon. Ich Dussel, ganz vergessen. Oh Gott, ohGott, da kann man doch erst recht nicht zur Last fallen! Kann man scheinbar doch. Fröhlich geht es zum Italiener um die Ecke und mir fällt meine Schwester ein, die mal sagte: „Ich bin schwanger, nicht krank.“ Es weht ein...Wind. Göttingen hat viele Fachwerkhäuser, hübsch sieht das aus und die unvermeidlichen Fußgängerzonen-Ladenketten müssen sich ein bisschen ducken in Göttingen. Göttingen hat mindestens ein wunderbares, italienisches Restaurant und meine Gastgeberin kennt es. Angenehm zurückhaltendes Dekor in warmen Holztönen, sehr modern, ohne Protz. Die Pizza ist Weltklasse, der Weißwein perfekt gekühlt und es redet sich ganz leicht hier. Die Themen gehen auch gar nicht aus (immer habe ich Angst dass die Themen ausgehen) und auch der Wein nicht und irgendwann ist Feierabend für die Italiener. Auch für Schwangere denke ich, Feierabend, ist ja schon Zehn vorbei! Aber Schwangere sind ja nicht krank, nur schwanger, und so lerne ich noch eine hübsche Kneipe kennen, die am Wegesrand rumlungert. Da spielen sie Musik von Früher, Nick Cave, The Clash, Ian Dury. Ein wahnsinnig gutes Bier gibt es da, dessen Namen ich vergessen habe, wegen des Bieres. Schwangere können übrigens Bionade trinken, wie ich Bier. Göttingen. Stadt, die Wissen schafft. Um Mitternacht Licht aus, an der frisch bezogenen Schlafcouch, und wieder habe ich Sorgen. Nicht einschlafen zu können. Zu Schnarchen. Ersteres dann: völlig unproblematisch. Ich erwache um 5:00 Uhr, noch vor dem Wecker und staune erstmal. Das ist kein Hotelzimmer. Wo bin ich? Im Bahnhof gibt es Frühstück. An langen Biertischen gibt das THW mal einen aus. Filterkaffee-Pumpen pumpen furzend in Plastikbecher. Grobe Wurst und Kaiserbrötchen. Augenringe starren in druckfrische Zeitungen. Tatsächlich, ein Sturm. Ein Orkan sogar. Tote. Es gibt Bilder. Ich war nicht wirklich dabei, erzählen mir die Bilder. Und ich bin noch mal, schon wieder, dankbar.
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