Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Mittwoch, 13. September 2006
Es muss noch jemand im Haus sein. Babysitter Paulsen schaut mal nach.

Dieses Land hasst mich. Darum sehe ich auch keinen Grund nicht Babysitter zu sein, für einen Abend. Statt in meiner Gastarbeiter-Casita, sitze ich ein paar Meter weiter oben im Fels, ich kann auch dort Blogs lesen und Wein trinken, ich muss hier nirgendwo mehr hin. Die Eltern müssen zum Elternabend und ich frage unpassender Weise, ob das in Spanien üblich sei, dass tatsächlich beide Elternteile da hin müssen. Nein, das machen sie freiwillig, ich zucke mit den Schultern und schalte Vox ein, da läuft „Das perfekte Dinner“. Der Bub ist schon zu Bett, nachher koch ich mir noch was Schönes und um zehn sind die Eltern auch zurück aus Barcelona.

Es ist 19:45 Uhr. Ich schalte den Fernseher aus und telefoniere online mit der Liebsten. Dann rauche ich eine Zigarette auf der hinteren Terrasse. Es windet stark. Heute hatten wir schon ein Jahrhundert-Gewitter, Morgens um Acht verfinsterte sich der Himmel nachtschwarz, dann brach ein Sturm los, das Meer war nicht mehr zu erkennen, ein Orkan, das Haus plötzlich ein Schiff auf hoher See, die Telefonanlage brach für viele Stunden zusammen, die Onlineverbindung verabschiedete sich nach dem ersten Grollen und ward erst Nachmittags wieder gesehen. Jetzt böt es erneut auf, der Wind zerrt an meiner Glut, die Pyrenäen senden wieder donnernde Grüße.
Plötzlich eine kreischende Sirene aus dem Bauch des Hauses. Scheiße. Alarm. Ich bin der Babysitter hier.
Mein Einsatz.

Und das ist nicht mein erster Einsatz. Anfang der 80iger fanden mich meine Eltern nach einem gemütlichen Stammtischabend, im Schlafanzug, im Treppenhaus sitzend, in der rechten Hand ein Brotmesser mit Wellenschliff, in der Linken die Hundeleine. Daran befestigt schlief unser Zwergschnauzer der drohenden Gefahr entgegen. Mehrmals hatte an diesem Abend das Telefon geklingelt, ich war ran gegangen und niemand hatte sich gemeldet. Nur ein Atmen in der Leitung. Ich hatte mir das Brotmesser und den Hund geholt. Oben schliefen meine jüngeren Geschwister. Niemanden würde ich herauf lassen. Fast hätte ich in dieser Nacht Papa abgestochen. Ich gehe ohne Brotmesser hinunter in die Garage.
Von Lichtschalter zu Lichtschalter schiebe ich mich durch das Haus, die schmalen Treppen zur Garage hinunter, der Ton wird lauter, in der Garage unerträglich. Ein Auto. Schränke mit Werkzeug. Autoreifen, Pappkartons, ein müdes Planschbecken, Gartenschläuche. Wer ist hier? Und wo?

Der Junge! Ich renne die Treppen wieder nach oben. Oben ist alles ruhig, von unten kreischt es nachdrücklich weiter. Ich suche die Handynummer des Vaters, er geht ran, flüstert seinen Namen. Ich sehe ihn, die Hand vor dem Handy zu einer Muschel geformt, entschuldigende Blicke ins Rund werfend, in einer Grundschule in Barcelona sitzend, nein, wahrscheinlich lehnt er am Fenster, die Stühle sind so klein. Das ist der Feueralarm, sagt er, und ich stehe Augenblicklich wieder in der Garage. Hier brennt nichts. Rauch?, fragt er leise. Kein Rauch. Stille in der Leitung. In der Garage ist der Ton kaum zu ertragen, ich halte mir das linke Ohr zu, am rechten Ohr vergrabe ich das Handy tief in die Ohrmuschel. Das ist nicht der Feueralarm, flüstert die Stimme aus der Grundschule in Barcelona, das ist der Einbruchsalarm. Ich bekomme Panik. Komisch, sagt die Stimme im Handy, den habe ich gar nicht eingeschaltet. Es will nicht besser werden mit der Panik.

Das Handy leitet mich zu einem Kasten am Aufzug und flüstert eine siebenstellige Nummer. Ich tippe. Eine Ruhe ist das. Wir lachen kurz und legen auf. Meine Kleidung klebt mir am Leib. Ich gehe zurück, nach oben in die Wohnung. Der Junge schläft, hat nichts mitbekommen, wenigstens das. Ich wähle die Nummer der Liebsten, scheiß auf die Kosten. Es klingelt. Die Stimme der Liebsten. Atemloses Erzählen. Nur kurz. In der Garage schlagen die Bewegungsmelder aus, heulender Alarm. Da unten ist etwas. Es bewegt sich. Ich ruf wieder an, sage ich und drücke die Liebste weg. Ich muss wieder in die Garage.

In dieser Gegend gibt es seit Monaten Einbrüche. Wer wach ist hat selber Schuld, wird brutal zusammen geschlagen und dann ausgeraubt. Hat man mir so erzählt. Ich geh dann mal in die Garage. In der Garage tippe ich die siebenstellige Nummer ein, die ich mir auf einem Tapas-Rezept notiert habe. Es funktioniert. In der Stille: Ein Auto. Schränke mit Werkzeug. Autoreifen, Pappkartons, ein müdes Planschbecken, Gartenschläuche. Hier ist niemand. Aber vielleicht oben in der Wohnung.
Denn genau da geht im Moment der Alarm los.

Ich werde diesen Jungen verteidigen, ich werde für diesen Jungen mein Leben geben, ich bin der Babysitter. Idiotisch, ich bin ein 37 Jahre alter, männlicher Babysitter und werde für einen Jungen sterben zu dem ich im Grunde genommen keinen Bezug habe. Aber ich habe den Job angenommen, ich habe alle Filme zum Thema gesehen und ich werde am Ende, Blut verschmiert, dem Jungen über den Kopf tätscheln, bevor sie mich in den Krankenwagen schieben. „Es ist vorbei“, wir der Cop neben mir sagen und mir wortlos meine Polizeimarke zurück geben und seltsamerweise wird auch meine Liebste da sein, ihr Gesicht erleuchtet von tausendfachem Blaulicht, fest hält sie meine Hand, sagt: „Ich liebe Dich!“ und steigt zu mir in den Rettungswagen. An der nächsten Kreuzung explodiert der Rettungswagen in einem Feuerball. In der nächsten Szene sieht man uns beide vor einem tollen Haus in einem tollen fremden Land lustwandeln, der Junge kommt uns über sattgrüne Wiesen entgegen gerannt, fällt in meine Arme, hebt den Kopf und sagt lachend: „Na, wie ist es tot zu sein?“

Die Alarmanlage oben ist leiser. Trotzdem, der Junge hat einen gesegneten Schlaf, ich bin dankbar. Siebenstellige Nummer. Das Sirenengeheul bleibt. Ich wähle die Nummer des Vaters. Eine weibliche Computerstimme spricht spanisch zu mir, sagt wahrscheinlich, dass der Vater nicht erreichbar ist, ich kann ja kein Spanisch. Ich lege auf und da taucht es klar vor meinem inneren Auge auf, mein neues Problem. Mal angenommen die Anlage spinnt. Mal angenommen es ist niemand im Haus und es brennt auch nicht. Dann werden trotzdem Leute von draußen kommen. Wachdienst. Polizei. Nachbarn. Ich spreche kein Spanisch. Selbst wenn ich spanisch spräche, ich kann nicht mal über die Gegensprechanlage mit diesen Leuten sprechen. Die läuft nämlich über das Telefon und man muss eine bestimmte Taste drücken um mit den Leuten am Eingang zu sprechen, ich kenne diese Taste nicht. Die Leute da draußen werden also einen verschwitzten Mann mittleren Alters an den langen Fensterfronten nervös auf und ab gehen sehen, der nicht bereit ist mit ihnen zu sprechen, obwohl sie seit geraumer Zeit Sturm klingeln. Sie werden dann wohl rein kommen.

Ich rufe wieder die Liebste an, gemeinsam bestaunen wir die Ausdauer der Sirenen und ich erzähle von meinen Sorgen bezüglich der Klingel und der Fensterfronten und der spanischen Sprache. Plötzlich, ein Stöhnen aus Richtung Kinderzimmer, ein tiefes, trauriges Stöhnen, ein Röcheln, ein Keuchen, wie ein verendendes Tier. Ich lasse das Handy sinken. Da keucht nichts, da liegt der Bub und ist aufgewacht, hat jetzt halt ein bisschen Orientierungsprobleme, sage ich mir. Und stöhnt deswegen wie bei einer Teufelsaustreibung? Wellenhoch die Ganzkörpergänsehaut ob dieser Erkenntnis, ich starre in die Dunkelheit in der irgendwo das Kinderzimmer liegen muss. Hhheeeemmheeeemmööööhheee, macht es und ich denke, der Bub wird jetzt gleich rauskommen, verschlafen im knittrigen Sponge Bob-Schwammkopf-Schlafanzug, er wird mich sehr ernst ansehen, dunkle Ringe um die Augen, die Lider gerötet und er wird mit fester Stimme sagen: „ich sehe tote Menschen.“, und nach eine Kunstpause: „Die ganze Zeit. Zum Beispiel gerade hinter dir, Paulsen.“ . Bleib dran, schreie ich in mein Handy und gebe wieder die siebenstellige Nummer ins Alarmanlagenkästchen ein, ich kann sie mittlerweile auswendig. Es ändert sich nichts. Die Sirene heult. Dem Bub wird nebenan der Teufel ausgetrieben. Ich möchte jetzt bitte nachhause.

Das Telefon klingelt. Die Leute vor dem Haus? Jemand im Haus? Es war abgemacht, das ich nicht ran gehe, wenn es klingelt. Macht ja auch keinen Sinn. Ich spreche ja kein Spanisch. Ich nehme den Hörer ab und sage mit fester Stimme: „Si?“. Der Vater ist es. Ob ich angerufen hätte? Oh, ja. Dann hört auch er die mehrstimmigen Sirenen. Oha, das ist aber ungewöhnlich, ich glaube wir kommen dann mal nachhause. Ich unterstütze seine Entscheidung. Als ich auflege, höre ich plötzlich noch einen Warnton, ganz leise, bekannt. Mein Handy. Akku leer. Blöde pixelige Luftballons steigen wie zum Hohn in die beschränkte Höhe des Displays, die Liebste ist verschwunden, die Leitung tot, der Bildschirm schwarz. Natürlich donnert es draußen.

Ich sehe durch die große, gläserne Terrassentür hinaus in die Sturmnacht. Auf der anderen Seite des Fensters blickt doof der große Hofhund hinein. Ich hatte mal Angst vor ihm. Ich stehe an dieser Tür und warte auf die Elternabendbesucher. Ich muss sie kommen sehen, die Angst, einen Herzinfarkt zu bekommen, wenn die plötzlich im Wohnzimmer stehen, ist groß.

Der Abend war lang. Dieser Text auch. Nicht vorenthalten möchte ich aber folgendes, nächtliches Telefongespräch zwischen dem heimgekehrten Vater und dem Sicherheitsdienst in der Notrufzentrale. Nachdem viel und herzhaft über mein Schicksal gelacht worden war, störten die Sirenen dann doch etwas und der Hausherr griff zum Hörer.

Sicherheitsdienst: „Sind sie loco! Haben sie mal aus dem Fenster gekuckt? Es regnet. Bei dem Wetter fahr ich doch keine Küstenstrassen entlang, ich habe Kinder, heilige Madonna, Mutter Gottes! So. Und jetzt noch mal, sehen sie die Kabel?“
Hausherr: „Ja, sehr bunt.“
Sicherheitsdienst: „Bunt ist anders. Rot, gelb, blau, ist doch übersichtlich, mein Gott! Sie trennen jetzt das blaue Kabel durch.“
Hausherr: „Warum?“
Sicherheitsdienst: „Das ist die Stromzufuhr!“
Hausherr: „Sicher?“
Sicherheitsdienst: „Boooahhh!“
Hausherr: „Und wann machen sie die dann wieder dran?“
Sicherheitsdienst: „Mañana!“
Schnipp.

Und wie der Hausherr gerade in die neue Stille hinein einen guten Roten für uns öffnet und mir dabei Augen rollend erklärt, Mañana, das hieße auf Spanisch Morgen, aber auch Übermorgen, nächste Woche, nächsten Monat, spätestens 2008 und auch leck mich am Arsch oder nie, in diesem Moment geht die Alarmanlage in der Garage an. Dann die in der Wohnung.
Mañana ist ein neuer Tag.