Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 28. August 2006
Herr Paulsen geht aus: Kurzschlafphasen-Kampf mit Massive Attack


Schlafsaal mit Nachtbeleuchtung

Drei offenbar wohnungslose Herren mit Alkoholproblem haben es sich mit mehreren Paletten Bier auf dem Bürgersteig vor der Kiez-Tankstelle gemütlich gemacht und beobachten argwöhnische den dunklen Nightliner, der nur mühsam die Kurve kriegt. Der üppig tätowierte Busfahrer kurbelt schwitzend und gerade als er fasst die Biervorräte der wankenden Herrschaften auf dem Trottoire touchiert, beugt sich ein Rotnasiger nach vorn und brüllt durch das geöffnete Fahrerfenster die Bandmitglieder von Massive Attack an: „Heeee, habt Ihr kein Zuhauseee!“

Auch kein Zuhause scheinen die Massen in der Halle des ausverkauften D-Clubs zu haben. Anfang März hatte ich mich glücklicherweise durch einen Schneesturm zum Massive Attack-Sondervorverkauf ins Docks gequält. Es sollte dann nur noch sechs Monate dauern, bis das Konzert tatsächlich ausverkauft war. Und Docks heißt jetzt D-Club, sonst ändert sich nichts. Auch nicht die regelmäßig statt findende Klima-Katastrophe in der Halle. „ Oh, Gott ein Alte-Leute-Konzert!“ flüstert die Liebste und tatsächlich, die Jahrgänge 1969-1975 haben sich bei tropischen Temperaturen eingefunden, geschmackssichere Musik zu hören und mich wundert, mit wem ich alles Jahrgang und Musikvorlieben teile. Eine Stunde warten wir bei 40 Grad und überall entzünden sich kleine, aggressive Zornesfeuer, es geht um die Platzwahl, Rauchverbote, um Körpergrößen, lasst doch mal das Kind nach vorn. Die Stimmung im Saal ist, ich sag mal, unschön.

Da! Gleißendes Licht von der Bühne, ich erblinde sofort und das bleibt den ganzen Abend so. Nur schemenhaft ist die Band zu erkennen, das macht aber nichts, angesichts der Tatsache das Massive Attack in den Neunzigern Konzerte komplett hinter einem schwarzen Vorhang spielten. Opa Paulsen weiß zu berichten, dass damals gegen Ende eines Konzertes, ein Arm durch den Vorhang winkte, man munkelte, es sei der Arm von Tricky gewesen, frenetischer Applaus für einen Arm.

Tricky ist nicht da, vorne stehen Grant Marshall und Robert Del Naja und nuscheln wechselweise in die Mikrophone, die Backingband schüttelt einen monotonen Soundteppich aus, der Bass scheppert. In meinem Auto habe ich eine Anlage die verwandelt ab Lautstärke 9 alle Basswellen in Furzgeräuschen. Der Mischermann vom D-Club hat genau diese Anlage und spielt Lautstärke 12.
Mir brennen die Augen. Ich schließe die Augen und beobachte die Schweißtröpfchen, die zwischen hartem Jeansstoff und heißer Haut an meinen Beinen hinab rinnen. Erstmal in Fahrt, stoppen die Schweißtröpfchen an feinen Beinhaaren, als überlegten sie kurz, schlagen dann eine galante Kurve ein und rinnen weiter. Im Nacken bilden sich auch Schweißtröpfchen. Formel1-Schweißströpfchen, die mir in rasanter Fahrt den Buckel runter rutschen. Massive Attack spielen dazu. Pling.pling.dtsch.dtsch.pfrrr.pffrr. Furzgeräusche. Blut spült unter meiner erhitzten Haut, ich lebe noch, doch der Schlaf greift nach mir, Blood makes noise, ich lausche, bin weit weg und so müde, alles wird ganz schwer, ich möchte....“Alles in Ordnung, geht’s Dir gut?“ Die Liebste sorgt sich seitlich, ich kann nur schwer sprechen, die Augen immer noch geschlossen antworte ich: „Mir ist so langweilig.“ „Na dann lauf doch ein bisschen rum!“, rät die Liebste mütterlich und ich muss sehr lachen.

Tricky ist nicht da, Shara Nelson ist nicht da, Nicolette fehlt, Liz Frazer, Sara Jay, Tracy Thorn, keiner da. Das habe ich auch nicht ernsthaft erwartet, aber als sich die Band langsam in den Hit-Block spielt, fällt auf, wie stark diese großartigen Vocalisten den Sound von Massive Attack geprägt haben. Die weiblichen Stimmen werden allesamt von einer sympathischen Dame vertreten, deren Name ich nicht verstanden habe und deren Interpretation der Songs ungefähr so wirkt, als habe man im Restaurant Pasta mit frischen Trüffeln bestellt (und auch bezahlt) und bekommt statt dessen Meggle-Kräuterbutter serviert. Ich bin genervt. Menschen riechen ja auch bei solchen Temperaturen oft nachteilig. Jetzt kifft mir auch noch jemand in den schwitzigen Nacken. Dauernd berühren mich fremde, nasse Arme. Ich möchte bitte jetzt gehen. Da kommt Horace Andy.

Horace Andy ist für Reggae-Heads eine Legende und es ist einer der größten Verdienste von Massive Attack, ihn Anfang der Neunziger als Gastsänger gebucht und damit einem großen Publikum abseits des Reggaes bekannt gemacht zu haben. Wenn Sie keine Karten mehr für dieses Konzert bekommen haben, nehmen Sie die gesparten 34 Euro und kaufen sie sich davon Horace Andy Platten. Meine Schweißperlen kämpfen jetzt auch mit einer Ganzkörpergänsehaut. Horace Andys unverwechselbare Stimme schafft selbst den Mischermann und alles versinkt in dankbaren, frenetischen Jubel bevor Massive Attack wieder beginnen endlose Soundwälle zu bauen. Also ich geh jetzt. Die Liebste nickt bejahend, wir kämpfen uns durch, beflucht und angepöbelt von schlecht gelaunten Besuchern, erreichen mit letzter Kraft den Club der Enttäuschten im Foyer. Über lauwarmem Bier werden hier fassungslos Köpfe geschüttelt.

„ Das ist Musik zum alleine hören, zum zuhause hören.“ stellt die Liebste fest und da hat sie wohl Recht. Denn eigentlich sind Massive Attack Gott. Gott sei Dank haben wir ein Zuhause. Als wir den D-Club verlassen, hören wir die ersten Töne von „Unfinished Sympathy“. So ist es.

......................................Links zum Thema:

Massive Attack:
http://www.massiveattack.com/

Horace Andy:
http://people.freenet.de/coolascandy/
http://www.roots-archives.com/artist/48
http://www.reggae-reviews.com/horaceandy.html