Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Mittwoch, 9. November 2005
Der Werbinicheinkaufswagen

Es könnte doch so einfach sein. Nur einen Hauch neben der Spur leben. Seinen Zeitbegriff lösen von dem der Restmenschheit. Knallhart zur Post gehen, morgens um acht. Zur selben Zeit einkaufen. Spazieren gehen an der Elbe nur Dienstags um Mitternacht. Auf Konzerten das Bier holen wenn die Band den Hit spielt. Videos ausleihen im Hochsommer.

Ich mach alles genau dann wenn es die Herde tut, bin Durchschnitt, bräsiges Mittelmaß und sage mir immer entschuldigend, dass mich das Leben dazu zwingt. Wie alle anderen auch. Und ganz schlimm: ich entblöde mich nicht Samstags Lebensmittel einkaufen zu gehen, gerne gegen halb Zwölf oder Eins. Selbst wenn ich nicht Samstagmorgens mit den ersten Vögeln sturzbetrunken ins Bettchen falle, ja selbst nach wohlgfälligem Zehn-Stunden-Ausschlaf-Marathon, ich schaffe es einfach nicht, Samstagsfrüh im Kaufmannsladen zu stehen. Es wird immer so, so Mittag.

Schicksalsergeben reihe ich mich dann in die langen Warteschlangen ein, die an den Kühltheken beginnen und ich weiß, einige Produkte werden ihr Verfallsdatum schon übeschritten haben, bevor die Aushilfskraft an der Kasse die Bonrolle gewechselt hat.

Nun langweilt es ja sehr mehrere Stunden in der Schlange der Zahlungswilligen zu verbringen. Erst versuchte ich es mit Lesen. Ich hatte mir ein Buch mitgebracht und zog es triumphierend aus der Manteltasche. Schon nach wenigen Minuten fiel mir auf, es ist noch peinlicher ein Buch in einem Supermarkt zu lesen, als kettenrauchend ein Buch zu schreiben, mit Bleistiftstummeln, in ein verwittertes Notizbuch, im Szenekaffee, bei Rotwein und offensichtlich einsam.

Neuerdings betreibe ich in der Warteschlange ein kleines Spiel und die Zeit verfliegt wie im Flug. Mit gesenktem Haupt nähere ich mich den Warteschlangen. Es ist unglaublich wichtig, niemanden zu sehen, nur die Einkaufswagen. Dann stehe ich da und kucke Einkaufswagen. Und rate so für mich, wer da wohl dran hängt, hinten.

Es gibt leichte und schwere Einkaufswagen. Leicht ist zum Beispiel dieser Einkaufswagen: Sechs Dosen Bier, Leberkäse in Scheiben abgepackt, eingeschweißte Pizza, Erdnüsse, Aufbackbrötchen, Räucherlachs in Scheiben und 1,5 l Mineralwasser.
Singlemann.
Der Singlemann ist stolz die eingeschweißte Pizza aus der Frische-Theke entdeckt zu haben. Er hat die nämlich mal in der Gemüseabteilung abgewogen. Sagenhafte 163 g mehr als die Tiefgekühlte und das zum günstigen Preis! Den Lachs und die Aufbackbrötchen hat er nach dem Prinzip Hoffnung gekauft, falls was geht, heute Nacht. Wenn nicht, macht er dann Sonntagabend Spaghetti mit Räucherlachs und wundert sich, das so ein begnadeter Koch wie er noch alleine ist. Er wird auch alleine bleiben. Weil er keine Einkaufswagen lesen kann.

Diesen zum Beispiel, nur einen Meter vor ihm: eine Packung spanische Salatherzen, 1 Grapefruit , ein Camenbert, Obst, Joghurt mit lustig sich drehenden Aktiv-Bakterien, Salzstangen, weiße Schokolade und ein leichter Weißwein. Singlefrau. Sie ist schlauer und hat Singlemann schon lange entdeckt, ekelt sich aber ein bisschen vor ihm, der isst Leberkäse und trinkt zuviel. Den Lachs hat er bestimmt auch nur gekauft, falls was geht heute Nacht.

Omas sind auch klasse. Es gibt zwei Arten von Omas. Gemeinsam ist ihnen der Supermarktbesuch zur Stoßzeit am Samstagmorgen. Da gibt es nämlich was zu kucken. Neulich hat sogar ein junger Mann ein Buch gelesen, das war ganz reizend, so gebildet sah der aus. Neuerdings starrt er aber immer nur noch auf dem Boden. Bestimmt hat er Sorgen. An dieser Stelle enden die Gemeinsamkeiten der Omas aber noch nicht. Beide haben den Korb voll mit Schokolade. Oma Eins: acht Zartbitterschokolade mit Nüssen, Teewurst, Gewürzgurken, eine Dose Fisch in Tomatensauce, eine Dose Bier, sechs Packungen „Prima“-Zigaretten und zwei Flaschen Schnaps. Oma eins bekommt keinen Besuch mehr von ihren Enkeln. Da scheißt sie auch drauf! Ihr Sohn, der Verlierer, der braucht auch nicht mehr zu kommen, schnorrt eh nur Geld, wo doch die Rente nie reicht für den ganzen Monat. Hätte er doch nur damals nicht diese unmögliche Frau geheiratet, sondern so eine wie die da vorne, mit dem Weißwein und der hellen Schokolade. Hoffentlich kommt heute was im Fernsehen.

Oma Zwei hat Hanuta gekauft, Raffaello, Merci Vielfalt und Fererro-Küßchen. Die Enkel kommen ja am Wochenende! Ansonsten gleicht der Wagen von Oma zwei, dem unserer Singlefrau verblüffend! Zusätzlich hat Sie aber noch das gesamte Wurstsortiment im Wagen und vier Torten von Koppenrath & Wiese. Selber Backen kann sie nicht mehr so gut. Unten im Wagen liegen drei Mini-Flaschen Eckes-Edelkirsch. Die braucht sie zum Backen.

Ein schwerer Einkaufswagen ist der hier:
sechs verschiedene Käsesorten, Salatherzen, eine Flasche Bier, Kinderschokolade, Zartbitterschokolade, Gewürzgurken, Parmaschinken (abgepackt), die eingeschweißte Pizza, eine Flasche Rotwein, Spaghetti, Hüttenkäse, Joghurt mit lustig sich drehenden Aktiv-Bakterien, Brotchips Knoblauchgeschmack, Teewurst, Obst.

Das ist meiner. An manchen Wochenenden würde mir das Bier völlig reichen. Ok, noch fünf Flaschen mehr. Naja, und die Pizza. Sind ja schließlich 163 g mehr drin als in den Tiefkühlteilen und das zum unglaublich günstigen Preis! Ich habe das mal nachgewogen.

Das blöde ist nur, ich bin Sklave meines eigenen Spiels geworden. Sie wissen nie, wer gerade in ihren Einkaufswagen kuckt. Und da möchte man doch eine ausgewogene Mischung vorweisen können. Wo man doch schon so ein fauler Langschläfer und bräsiges Mittelmaß ist!