Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
Sonntag, 9. Oktober 2005
Polygames Jahreszeitenlauschen (eine Liebes-Erklärung)
herr paulsen
12:09h
Irgendwas stimmt nicht mit mir. Mein eignes, universelles Radio, wie es Nina Hagen nannte, hat seit einigen Wochen sein Programm umgestellt. Wo bis vor kurzem Reggae-Vibes, dicke Bläsersätze, flockige Brasil-Zuckerwatte und eleganter Swing heftig rotierten, drängt mir die Radiostation des Herzens jetzt täglich schwere Gitarren und unterkühlten Electro auf. Aus dem Nichts erschallen obskure Bands wie Queen of Japan, Electronic Cat spielen „Bolantronic“ im Endlosloop, das Musikarchiv im Kopf befiehlt den I-Tunes Download von Fugazis „Waitingroom“ oder empfiehlt eine Woche lang The best of Radiohead. Alte Platten von Monster Magnet werden ausgegraben und für sensationell befunden, gerne höre ich auch plötzlich wieder The Orb, Chemical Brothers und New Order. Da kam ich dann doch schon ins grübeln. Was mich vor Wochen noch in musikalische Extase versetzte, lässt mich plötzlich völlig kalt, mein missionarischer Eifer in Sachen Reggae & Afro-Cuban erscheint mir rückblickend überzogen, mein Herz gehört plötzlich brachialem Krach und minimalem Electro-Geschubber. Ich kam nach längerem Überlegen zu folgender, erhellender Erkenntnis: Ich mache das seit Jahren so. Ich wechsle Halbjährlich ganze Paletten musikalischer Strömungen kaltherzig aus, mache im Herbst Schluss mit fröhlich Beschwingtem, werfe mich in die starken Arme von unterkühltem Karacho nur um zum Sommeranfang reumütig zurück zu kehren. Sowas wäre ja in der Liebe problematisch. Das stelle man sich mal vor: den Sommer in den weichen, gebräunten Armen von Miss Latin verbringen, sich wohlig im jamaikanischen Sand wälzen, ab und zu mal kurz nach Kuba rüber tuckern und ganz viel bunte, brasilianische Drinks mit Lamettastrohhalmen schlürfen. Ab September dann in den blauen Augen der unterkühlten, blonden Diva aus dem Norden versinken und in sterilen Nachtclubs und verräucherten Rockschuppen an eisbeschlagenen Champagnergläsern und knackenden Bierbechern nippen. Eine gewisse Wahllosigkeit wäre einem vorzuwerfen, zumal die Damen angesichts der Flatterhaftigkeit ihres Liebhabers bestimmt verstimmt sein dürften. Ist das nicht mit Musik genau so? Bin ich ein widerlich, wahlloser Polygamist, ein herzloser Egomane. Liebe ich überhaupt Musik? Musik ist doch kein T-Shirt, das man nach Saison in einen Wollpulli umtauscht! Oder ein Sommersalat, der kaum verwelkt eine Raclette-Party nach sich zieht. Gilt nicht, was in der Liebe schwierig wäre, auch für die Liebe zur Musik ? Bin ich ein charakterloses Schwein, weil ich nicht wie viele andere Menschen durchgehend die eine Musik in meinem Herzen trage, die Fahne eines Musikstils schwenke? Klar hört man gerne mal situationsabhängig eher Rammstein wenn der Computer schon wieder abgestürzt ist und zieht die Liebste zu den Klängen von Jack Johnson aufs Sofa. Aber eiskalt ganze musikalische Universen im Halbjahresrhythmus verwerfen? Bindungsängste? Die wichtigste Frage aber: geht das anderen Menschen vielleicht auch so, mit dieser jahreszeitlich bedingten, musikalischen Polygamie? Tröstlich scheint mir eine abschließende Erkenntnis: bei all dem Rumgehöre, gibt es doch eine musikalische Liebe in meinem Leben, die alle Jahreszeiten überdauert, mich immer wärmt und auch nie eifersüchtig wird, weil sie weiß, wir werden sowieso zusammen alt: the one and only, Miss Funk and Soul.
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