Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Montag, 8. August 2005
Opa Paulsen erzählt: Mein 112ter Geburtstag

Gestern waren wir auf dem Dom. Das ist ein großer Rummelplatz. Es war sehr schön, denn ich bin seit letztem Jahr von der Fahrgeschäftsbenutzung befreit. Und warum das so ist, erzählt Opa Paulsen jetzt mal:

Ich bin ein alter Mann. Ich bin 112 Jahre alt. Ich bin der älteste Mensch Deutschlands. Meinen Geburtstag feierte ich letztes Jahr auf dem Hamburger Dom. Zweimal im Jahr muss ich da mit meiner Freundin hin, traditionell verwandelt sich unsere, ansonsten harmonische Beziehung, in einen Interessenkonflikt. Sie liebt die waghalsigen Fahrten in allerlei monströsen Schüttelmaschinen, mit bedrohlichen Namen wie Inferno-Schocker,Todes-Tower und Teufelsritt. Ich lehne das ab. Der Sinn dieser bunt blinkenden Foltergeräte der Spaßgesellschaft erschließt sich mir nicht. Ich möchte nicht gefoltert werden. Ein Dombesuch bedeutet für mich Waldmeistersofteis, Rosen schießen und an guten Tagen stelle ich mich auch schon mal mutig an der Losbude an.

Gefährlich wird es für mich, wenn die Liebste Stimmen hört. Die Stimmen rufen: „steigen sie ein, jetzt dabei sein, es sind noch Plätze frei, der krasse Spaß für Leute von Heute, hier geht die Post ab, hier steppt der Papst im Kettenhemd, immer rein kommen immer dabei sein.“ Sie bleibt dann stehe und sieht mit leuchtenden Augen erst den Fahrbetrieb an, dann mich. „Och bitte“, sagt sie und „nur einmal!“ und ich sage: „Och nö.“ Dann gehen wir Waldmeistersofteis essen.

Letztes Jahr, setzte meine Freundin zur Durchsetzung ihrer Interessen ihre gefährlichste Waffe ein. Die Schmollmundschippe. Bei der Schmollmundschippe verwandelt sie sich innerhalb weniger Sekunden in ein sechsjähriges Mädchen, tränenfeucht werden ihre großen Augen und die Unterlippe schiebt sich zu einer Schippe nach vorne. Ich werde dann zu willigem Wachs in ihren Händen und tue Dinge die ich nicht tun will. Und auch diesmal ging alles sehr schnell. Eben noch hatte ich versucht, sie von einer Fahrattraktion Namens Dancer wegzuziehen, da!, kurze Schmollmundschippe und schon senkte sich der Sicherheitsbügel auf uns hinab. Ich erinnere mich noch genau, zu diesem Zeitpunkt war ich ein 35 Jahre junger, gesunder Mann.

Sehr schnell drehte sich das kleine Auto an den fragilen Stahltentakeln, die Fliehkräfte zerrten bereits nach wenigen Sekunden gehörig an meinem Körper, da rief der Folterknecht aus seinem Kabuff: „Jaaaa, Freunde der Schwerkraft, das ist nur die Aufwärmphase gleich geht das hier richtig ab!“. Ich versteinerte. Panikwellen durchrollten meinen Körper, ein stechender Schmerz im Rückrad, ja die Wirbelsäule würde brechen, ich war mir sicher. Querschnittsgelähmt. Bewegen konnte ich mich schon jetzt nicht mehr. Bunte Lichter brausten an mir vorbei, lebenswichtige Arterien platzten hörbar und durch den Blutrausch in meinen Ohren hörte ich Musik: „ja lebt den der alte Holzmichel noch?“ fragten sich da irgendwelche lustigen Musikanten aus dem Sächsischen, während ich mit Schallgeschwindigkeit dem Grenzbereich Todeszone entgegengeschmettert wurde. Mein Weib stieß exstatische Freudenschreie aus, verstummte aber sofort als ihr Blick auf den Beifahrersitz fiel. „Ist Dir schlecht? Musst Du kotzen?“, schrie sie, ich sagte: „Mmnm“. Dann brüllte sie mir Überlebenstipps ins Ohr:„den Kopf ganz fest ans Kopfteil pressen und geradeaus kucken.“ Ich überlegte genau wo genau denn geradeaus gerade war, da verstarb der alte Holzmichel und jetzt wurde eine Sirtaki-Party auf Mykonos besungen.

Das entfesselte Weib brüllte unentwegt irgendwelche Entschuldigungen, während die Bilder meines Lebens an mir vorbeirauschten. Als ich den Tunnel sah und das weiße Licht und Gott und meinen verstorbenen Großvater, da geschah ein Wunder. Wir wurden langsamer. Wir hielten an. Es war vorbei. „Tut mir leid“, sagte die, mir völlig unbekannte Frau neben mir, „ich wusste nicht, dass das so lange geht, echt, das ist mir jetzt...“. In diesem Moment wurde sie von der Stimme unterbrochen: „Ja Herrschaften, heute ist Familientag, doppelter Spaß fürs kleine Geld, auf zur zweiten Runde, ich hau dann mal den Turbobooster rein!“.

Das letzte woran ich mich erinnere ist eine kreischige Kinderstimme aus der Beschallungsanlage, die immerzu behautete: „ich bin Schnappi, das kleine Krokodil.“ Dann verließen mich die Lebensgeister und ich erwachte erst wieder an meinem 112 Geburtstag den ich halb liegend hinter der Pommesfriteuse des gegenüberliegenden Festzeltes verbrachte. Die Liebste gratulierte herzlichst: „Boah, du zitterst ja am ganzen Körper, sag mal, du bist ja leichenblass, oh Gott und die blutunterlaufenen Augen!“. Nach einer längeren Schweigeminuten sagte sie: „Weißt Du was? Wir zwei gehen jetzt schöööön Waldmeistersofteis essen!“ „Ach nein,“ antwortete ich „feiert ihr mal schön weiter, ich muss jetzt nachhause.“ Dann rief ich nach meinem Zivildienstleistenden.