Dem Herrn Paulsen sein Kiosk |
Dienstag, 12. Juli 2005
Herr Paulsen geht aus: Summerjam 2005
herr paulsen
12:45h
Bäumen beim wachsen zu zusehen ist eine unbefriedigende Beschäftigung, langwierig und öde. Ich sehe seit fünf Jahren zwei Bäumen beim wachsen zu. Die beiden Bäume stehen links an der Hauptbühne des Summerjam-Festivals in Köln am Fühlinger See. Da ich nur einmal im Jahr vorbei schaue, wachsen die beiden Bäume für mich sichtbar und wo früher saftiges Blattgrün die Sicht auf die Bühne verblätterte, da spenden jetzt kräftige Baumkronen Schatten.
Das auch ich einige Jahresringe zugelegt habe, fiel mir gleich am Donnerstag auf, als Andropovs Onkel und ich schwer beladen über das Festival torkelten, auf der Suche nach einer Heimstadt für die nächsten Tage. Doch kein Fleckchen Erde bot mehr Halt für Zeltheringe, voll bepackt die grünen Hügel am See, wer jetzt kein Zelt hat, baut sich keines mehr. Die Arme schmerzten, die Schultern brannten unter den Lasten der Bequemlichkeiten die wir eingepackt hatten und wir fluchten sehr. Nach nur 1 1/2 Stunden fanden wir doch noch einen hübschen Lagerplatz. Der Zeltaufbau ging flott von der Hand! Bis wir Herr Svensons Zelt aufbauen sollten, es sei sehr klein, hatte Herr Svenson gesagt und nur etwas kompliziert im Aufbau, aber durchaus machbar! Nach 45 Minuten war uns klar, Herr Svenson hatte gelogen. Irgendwann lag dann eine verschrumpelte, olivgrüne Milchtüte von gigantischen Ausmaßen im Gras und ich rief Herrn Svenson an und beschimpfte ihn ein bisschen und er könne morgen seine Milchtüte selber fertig aufbauen. Dann wurde gegrillt. Gut dass wir knapp 1,5 kg Grillfleisch dabei hatten. Der 9,90 Euro - Grill von der Tankstelle wackelte stark, immer wieder brach das Grillgitter aus der Verankerung und entließ viele saftige Steaks auf den Gehweg. Rosé und Sauvignon Blanc waren aber angenehm kühl und eine heitere Gelassenheit erfüllte uns endlich. Ein schöner Gratis-Dancehall unter den Sternen half beim Verdauen. Freitag besuchten wir dann meine Bäume. Auf der Bühne hielt der Veranstalter eine Rede über die Feigheit der Londoner Terroristen, es gab eine Schweigeminuten und dann dick was aufs Ohr von ASIAN DUB FOUNDATION aus London. Die so gar nichts mit Reggae zu tun haben, oder, wie es Andropovs Onkel formulierte, die Rage against the maschine des Reggae sind. Das ist ja das schöne am Summerjam, Kifferromantik und Latzhosen-Reggae (Red Red Wine...) sind überwunden oder finden nur am Rand statt. Gleich die zweite Band dann der Höhepunkt des Festivals. BABYLON CIRCUS aus Frankreich vermischen Reggae, Ska, Latin, Hip-Hop, Salsa und Punk zu einer glückselig machenden Mischung. Dicke Bläsersätze, röhrende Gitarren, Akkordeon-Einspieler, fette Beats. Sensationell! Äußerst charmant wird da auf der Bühne gearbeitet und gefeiert, wuchtig, aber mit französischer Eleganz. Dass der Mix allein noch nicht geschmaaaidisch macht, bewiesen an diesem Tag CULCHA CANDELA aus Berlin. Auch hier Salsa-Reggae-HipHop-Ska, aber die Sounds vom Plattenteller, ein bisschen Rumgespringe dazu ein bisschen Mitmachfaschismus (Hände in die Höh!), da muss ich ein bisschen gähnen. Auch nicht schön: SEEED. Dabei habe ich nichts gegen SEEED. Ich habe alle Platten, Singles, EPs, seit es die Jungs gibt und dies hier war mein zwölftes (!) SEEED-Konzert. Ich hör jetzt damit auf. Das ganze hatte sich schon beim letzten Konzert im Hamburger Stadtpark abgezeichnet. Da stand die Liebste neben mir, machte immer so: „weia!, ohjeh, ach Gott!“, stöhnte hier und da, zog scharf die Luft ein und resümierte am Ende des Konzertes: „ Das ist ja ne Boyband!“. Auf dem Summerjam entpuppte sich die Boyband als stadiontaugliche Boyband mit streng choreographierter Bombast-Show. Dann ab jetzt doch lieber ehrlich schwitzen mit den Arbeitern von BABYLON CIRCUS. Herr und Frau Svenson hatten dann doch noch ihre Milchtüte aufgebaut, herr Svenson entschädigte uns mit Freibier für die entstandene Mühsal und gemeinsam gingen wir spät Nachts ins Dancehall-Zelt um Hamburg zu huldigen: „Unsere“ Jungs vom SILLY WALKS SOUNDSYSTEM zauberten in der bierzeltartigen Soundgrotte einen Dancehall auf die Plattenteller, wie ich ihn noch nicht erlebt habe. Das war Gott! Also Jah in diesem Fall. Zwei Menschen machen mit ihren Platten und Dubplates 2500 Leute fertig. Freudentränen mischten sich mit dem üppigen Kondenswasser-Regen vom Hallendach. Totales Durchdrehen, Tanzen bis der Arzt kommt! Die Altersweisheit lies uns nicht erst auf den Arzt warten, wir gaben besonnen früher auf und den Löffel ab. Jetzt also schlafen. Ich muss an dieser Stelle von unseren Zeltnachbarn sprechen, auch sollen diese Aufzeichnungen der Wissenschaft dienen, zum Wohle unserer Kinder. Denn unsere Zeltnachbarn waren nicht von dieser Welt, oder zumindest nicht menschlich. Ich war nicht immer so ein Langweiler der nichts verträgt und immer schnell müde ist, aber selbst in meinen Hochphasen gelang mir nie, was unsere Nachbarn uns da vorlebten: Vier Tage ohne Schlaf, Rund um die Uhr Bier, dabei immer freundlich, gelassen, heiter und hellwach. Die beiden Jungs (27) feierten so richtig. Das wäre jetzt hübsch zu beobachten gewesen, leider spielten die Jungs auch Rund um die Uhr Musik. Geschmackssicher zwar, aber laut und Rund um die Uhr. Zwar gelang es der Hamburger Reisegruppe vor dem Schlafengehen soviel Alkohol zu inhalieren, das für ein rasches Koma gesorgt war, aber schon nach zwei-drei Stunden fraß sich der Reggae vom Nachbarzelt durchs schwitzige Ohropax, glockenklar, Augen auf, weiter geht’s. Der Samstag! Sonnenschein! Badestrand. Glasklar und kühl das Wasser. Urlaub. Der Fühlinger See ist einer der Gründe warum ich jedes Jahr hierher komme. Der Wein war immer noch kühl (5 Liter-Schläuche rocken!) und ein großer Frieden tackerte uns für viele Stunden auf unsere Campingstühle. Sonne genießen, Frauen schauen, Nachbarn bestaunen. Ach herrlich Kinder! Neun Japaner in schicken Anzügen spielten geschmeidigsten Ska und konnten auch Swing. Ganz ohne Exotenbonus, wie es im Drum-Zigarettenpapier-Werbe-Programmheft so unglücklich formuliert war, spielten die Jungs ein großartiges Set von meist instrumentalen Stücken. SERGENT GARCIA, den Mann der gleichzeitig in zwei Richtungen schauen kann, liebe ich seit Jahren. Ich habe seine zweite Platte UN POQUITO QUEMA'O mal in Barcelona gekauft, weil ich das Cover so hübsch fand. Damals habe ich auch noch selbst Platten aufgelegt und aller zwei Jahre lang damit genervt. Zu Recht, wie ich nach diesem Konzert finde. SERGENT GARCIA betreibt übrigens eine sehr schöne Flash-Site, alle Links wie immer unter dem Text. Reggae-Legende BARRINGTON LEVY (under mi sensi) spielte dann über eine Stunde under mi sensi und bekommt einen Preis von mir für den billigsten Keyboardsound seit dem großen Keyboard-Verbrennen, Ende der Achtziger. Zahnweh und Ohrenkrebs galore! (später erzählte mir eine Bekannte von einem „grenzenlosen“ Skandal im Live-Reggae: sie beobachte das schon seit Jahren, „Soundfaschisten“ hinter den Reglern würden absichtlich die schwarzen Bands scheiße abmischen, während weiße Acts wie SEEED oder GENTLEMAN glasklar und in Aufnahmequalität abgemischt würden. (Ich lass das jetzt hier mal so stehen.)) Von THE SELECTER haben wir nur die Zugaben mitbekommen (Too much pressure, Pressure drop). Pauline Black scheint nicht wirklich zu altern, eine schöne Frau mit der berühmten kernigen Stimme. Toll! Nicht so toll: YELLOWMAN. Grausamer Soundbrei ohne Höhen und Tiefen PATRICE („this is not a concert, this is a church!“)
knödelte uns dann in einen wohlverdienten und erfrischenden Nachmittagsschlaf, der Herrn Andropovs Onkel einen lustigen Handytastatur-Abdruck auf die Backe zauberte und verbrauchte Energie zurück brachte. Nach dem Aufstehen machte ich mich auf die Suche nach kaltem Bier, warmes gab es reichlich und schon waren wir wieder fit für den Abend. GENTLEMAN
lauschten wir aus der Ferne, zwischen der Bühne und uns standen ca. alle Besucher des Festivals, so ungefähr 25.000. Ich liebe Gentleman, aber das hier ist null funky und ich verstehe Menschen nicht die sich absichtlich in solche Konzertsituationen begeben ( Westernhagen, Rolling Stones & Co). (Der Sound war allerdings glasklar, die Verschwörung der Soundfaschisten hatte ganze Arbeit geleistet.) Letzte Mobilisierung aller Kräfte dann für einen weiteren Dancehall der Luxusklasse. POW POW, SENTINEL und der großartige Reggae-Ambassador MR. DAVID RODIGAN!!!!!!!! Es ist jedes Jahr eine Freude diesem Mann zu begegnen, der Mann hüpft völlig entfesselt um die Turntables und peitscht das Publikum durch. Rodigan hat Reggae nach Europa gebracht, eine Legende, und die wird gefeiert. Während des gesamten Rodigan-Sets ist kaum ein Ton Musik zu hören, das macht aber nichts, ca. 4000 Menschen schreien einfach nur glückselig und textsicher jeden Tune mit und das ist ein ganz besonderes Erlebnis für mich, jedes Jahr wieder. Nirgendwo, bei keiner Band, bei keinem Soundsystem, bei keinem Konzert das ich je in meinem Leben besucht habe, erlebte ich so eine entfesselte Explosion, so einen armdicken Draht zwischen Publikum und Artist, wie einmal im Jahr, auf dem Summerjam, wenn Sir Rodigan da Rootsman die Turntables dreht. Der Sonntag ging dann für Sonnenbaden, Schwimmen, Rumgammeln, Abreisen drauf, obwohl noch viele schöne Bands spielten, aber the secret to a long life is knowing when ist time to go. Ein Jahr habe ich jetzt Zeit mich zu erholen, dann muss ich wieder los und nach meinen Bäumen sehen. Und wissen Sie was? Ich freu mich drauf! ................................................links zum Thema http://www.sillywalks.de/ http://www.babyloncircus.net/ http://www.asiandubfoundation.com/ http://www.culchacandela.de/ http://www.seeed.info/ http://www.skapara.net/ http://www.sergentgarcia.com/ http://www.barringtonlevy.com/ http://www.patriceonline.de/ http://www.journeytojah.com/ http://www.powpow.de/ http://www.sentinelsound.de/ http://www.rodigan.com/
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