Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Freitag, 18. März 2005
Schüler Paulsen kehrt zurück.

Ich bin viel zu früh losgefahren. Aber ich möchte nicht zu spät kommen, zu meinem ersten Schultag seit fast zwanzig Jahren. Es ist zehn Uhr morgens, ich fahre durchs graue Holsteiner Land, vorbei an abgeernteten Grünkohlfeldern und ich merke das meine Hände am Lenkrad schwitzen. Meine Hände schwitzen nie. Muss die Aufregung sein. Ich biege von der Autobahn ab, die Karte auf dem Beifahrersitz, hinein ins Hinterland. Ich muss an meinen letzten Schultag denken, damals vor fast zwanzig Jahren, in der elften Klasse:

Der Schlag traf Herrn Marten unvermittelt und mit einer solchen Wucht am Kopf, dass es ihm die Füße wegriss. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er fast waagerecht in der Luft zu schweben, dann griff die Schwerkraft nach ihm, er stürzte hart und ungeschützt, kleine Kieselsteine gruben sich in seine Stirn, dann lag er einfach da, auf dem schwarzen Asphalt des Pausenhofes, bewegte sich nicht mehr.

Ich ließ die Waffe sinken, meine lederne Schultasche, gefüllt mit dem großen Dierke Weltatlas, Büchern für Mathematik, Physik und Englisch. Der Duden steckte auch in der Tasche. Mit der geballten Schlagkraft eines mittelprächtigen Allgemeinwissens hatte ich unseren Klassenlehrer einfach weggewischt.

Es hatte Kohlrouladen gegeben und ich hatte auf ihn gewartet, draußen vor dem großen Speisesaal. Klein gemacht hatte ich mich, gebettelt, ob ich nicht an einem anderen Tag nachsitzen könnte, nur bitte heute nicht, heute war Mittwoch und jeden Mittwochnachmittag war Koch-AG, darauf freute ich mich von Mittwoch bis Mittwoch. In der Schulküche durften wir braten, schmoren, dünsten und frittieren, schmecken, riechen und entdecken. Immer Mittwochs öffnete sich eine Küchentür und die Möglichkeit, die Internatskost zu vergessen, diese lieblosen, immergleichen, sich monatlich wiederholenden Variationen von Kohlehydraten mit Fett, immer grau, immer grauenhaft und immer zu wenig. Zweihundert hungrige Jungen drückten sich jeden Mittag in den großen Speisesaal des christlichen Internates, gab es Schnitzel hatten wir schon zum Gebet die Gabeln in der Hand und das größte Schnitzel im Visier. `Herr hab Dank für Speis und Trank` betete der Schulleiter vor jeder Mahlzeit mit uns. Doch nur Mittwoch war der Tag des Herrn.

Klein hatte ich mich gemacht. Gebettelt. Dann hatte Herr Marten angefangen zu brüllen. Immer näher war er gekommen, zu nah, brüllte aus geröteter Zornesfratze, was ich mir erlaube, du kommst, das sag ich dir, er brüllte mit geschwollenen Adern, ganz nah kam er, beinahe berührten sich schon unsere Nasen, ich konnte seine Zahnkronen sehen, dazwischen kleine Fetzten von Kohl und Hack und aus dem brüllenden Maul roch es heraus, nach Kohlrouladen, kaltem Rauch, und fauligem Hass. Ich wischte das Gesicht weg. Ich musste das tun.

Diese Geschichte werde ich heute sicher nicht erzählen, denke ich, als ich das Ortsschild der kleinen Stadt passiere, die nur aus Baumschulen und Spielhallen zu bestehen scheint. Zwanzig Baumschulen und acht Spielhallen später parke ich den Wagen vor dem riesigen Backsteingebäude. Herzklopfen, ich wische mir die Hände an der Anzughose ab und bleibe einfach im Wagen sitzen. Ich habe noch zwanzig Minuten Zeit. Zeit bis die allerhärteste Lesung meines Lebens beginnt.
Denn meine Zuhörer werden heute Schüler sein. 24 junge Menschen im Alter von 17-18 Jahren, Grundkurs Deutsch.

Ich wurde engagiert, den jungen Menschen neunzig Minuten lang zu erzählen, dass es schwerlich ein Leben ohne die literarischen Klassiker gäbe, aber mit Sicherheit ein buntes literarisches Leben nach den Klassikern. Literatur rockt! Was geht auf Deutschen Lesebühnen, was ist eigentlich ein Poetry-Slam und gibt es Literatur im Internet? Dazwischen zur Auflockerung ein paar eigene Texte lesen. So hatte der junge Lehrer mir das erklärt und auch gleich ein paar meiner dringenden Fragen beantwortet: nein, die Schüler wüssten nicht was ein Poetry-Slam ist. Wiedervereinigung? Schwieriges Thema weil Geschichte an Deutschen Gymnasien mit dem zweiten Weltkrieg endet.
Harry Rowohlt? Ja, aus der Lindenstrasse. Robert Gernhardt? Unbedingt erklären! Ich wage einen letzten Versuch: Max Goldt und Stuckrad-Barre ( Barre zum in die Pfanne hauen)? Nee, lieber erklären. Das Gespräch endete mit der Bestätigung meiner Vermutung, „ja, ich sei für die Schüler ein alter Sack, ein echter Erwachsener.“

Ich mache mir Sorgen.

Das Lehrerzimmer. Der nächste Schock. Es ist das erste Lehrerzimmer, dass ich je in meinem Leben betreten habe und es sieht aus als sei auf einem Kindergeburtstag eine Bombe hoch gegangen. 70 Lehre, Erziehungsbeauftragte für 1400 Schüler aus dem gesamten Umland, hausen in ihrem eigenen Dreck und der Deutschlehrer flüstert mir zu, er habe die Befürchtung, dass „hier schon so manches langsam kompostiert.“ Erschreckender als diese Müllhalde sind nur noch ihre Bewohner. Ich erkenne viel meiner alten Lehrer wieder, obwohl meine Schule 900 km von hier entfernt stand. Sitzen da mit verkniffenen Minen, schütten lauwarmen Filterkaffe in sich hinein, entfernen mit aufgebogenen Büroklammern Wollmäuse von ihren ausgeleierten, graubraunen Pullovern und haben Angst vor der nächsten Stunde. Na, da haben wir wenigstens eine Sache gemeinsam.
Ich hatte gedacht, die Wachablösung sei schon längst erfolgt, aber nein, da sitzen sie alle immer noch und nur ganz in der Ecke ist ein Tisch mit jungen Lehrern meines Alters. Hier wird gelacht, ich bekomme Filterkaffee in einer „Santa Pauli“- Kaffeetasse mit weihnachtlichem Totenkopf, und aufmunternde Worte mit auf den Weg.

In der kleinen Bibliothek ist ein kleiner Lesetisch für mich aufgebaut und ein Glas Wasser. Es riecht nach Papier, Orangenschalen, grau-braunem-Pullover-Schweiß. Und ich kann mich selbst riechen. Mein Anzug stinkt nach Rauch. Und überhaupt sehe ich Scheiße aus. Ich müsste seit Wochen zum Friseur, keine Zeit gehabt, jetzt stehen die Haare in alle Richtungen und ich stinke nach Rauch. Wenn ich jetzt noch besoffen wäre, dann könnte das was werden hier.

Da kommen sie. Wer zu spät kommt den bestraft das Leben, wilde Keilerei um die hintersten Plätze, die Raucher bekommen die erste Reihe. Stinke ich wenigstens nicht mehr alleine. Ich beginne meinen Vortrag, lese zum warm werden einen kleinen Text, der immer gut funktioniert. In der ersten Reihe nickt ein junger Mann weg. Gelacht wird wenig. Skeptische Blicke, Totenstille.

Nach zwanzig Minuten habe ich sie. So ein bisschen. Sie hören zu, stellen Fragen, sind aufmerksam, der Lehrer nickt zufrieden. Gegen Ende der ersten Stunde schenken mir die jungen Mädchen hier und da ein Lächeln, beugen sich nach vorn, um besser hören zu können. Das freut einen alten Sack wie mich und ich überlege ob die Frisur vielleicht doch nicht so doof ist. Die Jungs lümmeln jetzt schon viel entspannter in den Stühlen, der Schläfer ist auch wieder wach.

Es gongt zur ersten Pause. Lief doch prima. Nach der Pause, noch mal eine Fragerunde.

„Noch Fragen zum ersten Teil? Ja, Sie!“

„Äh, ich wollt mal fragen was für eine Schulausbildung sie eigentlich haben?“

Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Mist.

„Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet, ich äh....öh...mmh...“

Mir wird ein bisschen heiß, ich muss schnell antworten sonst verliere ich das Vertrauen aus der ersten Stunde, jetzt nicht rumdrucksen. Mir fällt absolut nichts ein. Also tu ich, was ich immer für das Beste halte, obwohl ich mir in diesem Fall nicht so sicher bin, ich habe aber keine Zeit mehr zum Nachdenken. Ich sage die Wahrheit. Ich sitze in der Bibliothek eines Gymnasiums in Schleswig Holstein und erzähle 24 angehenden Abiturienten und ihrem Klassenlehrer, wie ich damals in der elften Klasse meinen Klassenlehre mit der Schultasche weg gehauen habe und so die Schulzeit schwungvoll und ohne Abschluss beendete.

Die zweite Stunde wurde ein Riesenerfolg und verging wie im Flug.