Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Samstag, 29. Januar 2005
Herr Paulsens erbauliche Sonntagspredigt. Folge IV: Der Guide Michelin, Testeralarm & die Ostend Queen

(Immer Sonntags macht sich Herr Paulsen an dieser Stelle Gedanken über die Unzulänglichkeiten der Welt. Aus aktuellem Anlass diesmal schon Samstags)

Unglaublich was sich der Guide Michelin in seiner Benelux-Ausgabe für 2005 leistet. In der roten Gourmetbibel wurde das Restaurant Ostend Queen in Ostende empfohlen. „Sorgfältig zubereitet und preiswert.“ Blöd nur, das zum Zeitpunkt der Bewertung noch gar nicht geöffnet war. Kein einziger Tester hatte je dort gegessen, das Restaurant wurde erst Anfang Januar eröffnet.

Offenbar vertraute der GM auf den Sternekoch Pierre Wynants, der dort für die Karte verantwortlich zeichnet. Ex-Tester Pascal Rémy sagte der belgischen Zeitung "La Dernière Heure", es sei keine Seltenheit, daß die Experten nicht jedes Lokal testeten. Restaurantbesitzer Fernand David hat inzwischen eingestanden, sich bereits im November mit den Gourmet-Experten auf die positive Wertung "verständigt" zu haben. Damals war das Restaurant noch eine Großbaustelle.

Wer sich in den Ring begibt, mit Einsatz, Elan und der richtigen Motivation, der muss mit allem rechnen von beißender, sogar ungerechter Kritik bis zur schmeichelnden Lobhudelei ist alles drin. Das gilt für den Koch wie für den Schriftsteller, den Musiker, den Schauspieler oder Regisseur. Der entscheidende Unterschied für den Koch liegt aber darin, daß er immer nur von ein, zwei, drei Testern beurteilt wird, es gibt kein weites Feld der Einschätzung und Meinungen für ihn, sondern die Wertungen in den Bibeln GaultMillau und Michelin sind verbindlicher Richtwert, wie in Stein gemeißelt. Und das für ein Jahr. Und das macht Angst.

Allerdings gibt es auch die Möglichkeit, den großen Führern einen Brief zu schreiben und auf ihre Besuche zu verzichten. Das tun immer mehr Gastronomen, die sich auch den erheblichen finanziellen Mehraufwand den der Sternezirkus kostet, nicht mehr leisten können und wollen. Und die einfach nur in Frieden kochen wollen, ohne Druck, für ihre Gäste.
Überhaupt Gäste! Die wichtigsten Menschen im Restaurant, sie gilt es zu überzeugen, jeden Tag von neuem. Einen guten Ruf basierend auf den Empfehlungen der Gäste, da ist viel Schaden abzuwenden, gleich was der Tester auch schreibt. Mundpropaganda und gleichbleibend gute Qualität auf schwankungsfreiem Niveau, das schafft Vertrauen, so lässt es sich relativ sorgenfrei kochen.

Wer aber mitmacht im Sterne-Reigen, der braucht einen langen Atem und ein dickes Fell. Und muß sehr, sehr aufmerksam und ausgeschlafen sein. Tester-Alarm! In meinen sechs aktiven Jahren habe ich bestimmt an die zweihundert Tester-Alarm-Abende mitgemacht. Der aufmerksame Service eines Sternerestaurants ist immer angewiesen, mögliche Tester zu melden. Alleinsitzende Herren mittleren bis hohen Alters, die, mit Notizblöcken bewaffnet, Querbeet essen sind verdächtig, Testeralarm wird ausgelöst. Auch sehr verdächtig sind Menschen, die darum bitten, die Weinkarte doch bitte während des gesamten Essens am Tisch zu lassen. Um diese sehr einfachen Regeln wissen auch reisende Geschäftsleute und machen sich einen schönen Abend, sie spielen „Tester“ und können Höchstleistungen erwarten.

Testeralarm wirft die gesamte Küche in einen Modus äußerster Aufgeregtheit, die ich nie verstanden habe. Wir kochten doch auch sonst ganz ansehnlich. Doch bei der Testeralarm plusterte sich plötzlich das Amuse geul zur Vorspeise auf, jeder Teller wurde zehnfach geprüft, bevor er in den Speisesaal ging, zahlreiche „Zwischengänge“ tauchten aus dem Nichts auf. Verunsicherung pur und 15 Pralinen zum Kaffee.

Köche sind aber auch nicht ganz blöd. In vielen Regionen Deutschlands gibt es Telefonketten von Haus zu Haus. Ist ein Tester erstmal wirklich als Tester entlarvt, setzen sich die Köche ans Telefon und informieren ihre Kollegen im größeren Umkreis. Es werden Autonummern und Fahrzeugtypen durchgegeben, Personenbeschreibungen werden gefaxt (das ist kein Witz!). Die Serviceteams ganzer Landkreise und Bundesländer starten daraufhin die tägliche Rasterfahndung im Restaurant, Karten werden eilig umgeschrieben und die Küchenmannschaft hat Urlaubssperre für mehrere Wochen. Insgesamt so entwürdigend wie nötig, den, sie erinnern sich, es geht ja um alles und das für ein Jahr.

Habe ich noch was vergessen? Ach ja, die seltenen Fälle von freundschaftlichem „Testen“. Da meldete sich vor Jahren zum Beispiel der Chef eines großen deutschen Restaurantführers immer an, im Sternerestaurant, aß aufs Beste, plauderte anschließend beim teuren Prickel mit dem Küchenchef, ein schöner Männerabend folgte. Natürlich lies es sich der Tester-Chef nicht nehmen die Bewertung dann auch selbst zu schreiben.
Wo er doch schon das Zahlen vergessen hatte.

Alles in allem also eine recht unappetitliche Angelegenheit für alle Beteiligten, die Testerei. Der Guide Michelin hat dem Ganzen mit der Ostend-Queen-Sauerei ein schimmliges Sahnehäubchen aufgesetzt und musste jetzt, erstmals in seiner Geschichte, eine Ausgabe zurückziehen.

Das Restaurant Osten Queen ist ausgebucht auf Wochen. Reservierung empfohlen.
Mal sehen wie es schmeckt.

..................................ratsch.

Links zum Thema:

Was ist eigentlich der Guide Michelin?:

http://de.wikipedia.org/wiki/Guide_Michelin

Ex-Guide Michelin-Tester Pascal Rémy packt aus:

http://www.mysan.de/article6926.html