Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Samstag, 1. Juli 2006
Plötzlich Gernhardt im Garten. Ein Abschied.

Halbfinale, bald! Die Tippgemeinschaft grillt euphorisch auf Deutsche Art, alles sofort und gleichzeitig rauf auf den Grill, Steaks schwitzen über lauwarmen, schwarzen Kohlen, mittig lodern aber Flammen und verbrennen zarte Würstchenhäute. Es raucht, es stinkt und nach einer Stunde ist die Sache gegessen. Jetzt wieder Bier und Fußball.
Es erhebt sich der Gastgeber, blickt streng ins zwanzigköpfige Rund und fragt: „Wer hat bei dieser WM die meisten Duelle gewonnen?“ Namen fliegen über Kartoffelsalatvariationen, „jaja, genau!“, noch mehr Fragen werden kennerisch von den versammelten Bundestrainern beantwortet und diskutiert, meister Ballkontakt, beste Torchancen, die Hitliste der zehn hellsten Lichtgestalten des internationalen Fußballs. Ich schweige, ich bin Letzter der Tippgemeinschaftsliste, diesen Umstand muss ich nicht auch noch verbal festigen. Ich nehme noch mal Krautsalat mit Ingwer, eine Sensation, die Überraschung des Abends im kleinen Garten, „ist von Tim Mälzer!“, erklärt die Gastgeberin das Unerwartete.

Kabeltrommeln werden aus dem Haus geworfen, Geräte aufgebaut, alle Trainer sind auch Techniker, und schon bald schimmert matt ein Fernsehbild, lautlos auf der abendsonnigen Hauswand. Es gibt keinen Ton, die versammelten Fachleute reichen sich. Italien, Tor. Dann kurze Unterbrechung im Programm, plötzlich ruft die Liebste laut: “Paulsen!“ Ich folge ihrem ausgestreckten Arm zur Hauswand, da ist Robert Gernhardt zu sehen, ein angedeutetes Lächeln aus der Kulisse der Tagesthemen, unten steht: Robert Gernhardt ist tot. Kein Ton, auch im Garten ist es plötzlich still, alle sehen mich an, doch auch ich: sprachlos. „Wer ist denn Robert Gernhardt?“, fragt jemand, dann geht es glücklicherweise weiter im Programm und ich muss mich erstmal setzen.

Robert Gernhardt ist für mich einer der größten Deutschen Lyriker, ach was schreib ich denn, er ist für mich der größte Deutsche Lyriker. Ein scharfer Geist, ein sensibler Denker, ein komischer Poet. Er betrachtete die Welt immer menschenfreundlich, mit großer Komik, nie polemisch, nie verletzend, immer kritisch. „Wir können Goethes, Schillers, Klopstocks Hinscheiden durchaus verschmerzen, solange nur Robert Gernhardt uns nicht genommen wird“, schrieb Hubert Spiegel mal in der FAZ. Jetzt war es soweit. Gernhardt starb im Alter von 68 Jahren nach langer, schwerer Krankheit am Freitagmorgen in Frankfurt am Main.

Einmal nur habe ich Gernhardt erlebt, in irgendeiner Kirche in Hamburg, Jan Philip Reemtsma hielt einen Vortrag über das Gottesbild in der Gernhardtschen Dichtung und ich verstand kein Wort. Dann kam Gernhardt, zwei Stunden brillante Unterhaltung, rechts hinter mir saß Harry Rowohlt und lachte dröhnend immer am lautesten. Und so wurde an diesem Abend immer zweimal gelacht, einmal über Gernhardts komische Dichtung und dann, Sekunden später, noch einmal mit Harry Rowohlt.

Im Garten wird Gottlob jetzt Schnaps ausgeschenkt, reihum wird „Dein schönstes WM-Erlebnis“ abgefragt, mich lässt man grübeln, man kennt mich, das ist schön, ein Freundschaftsbeweis. Überhaupt scheint mir die WM bestens geeignet, sich zurück zu ziehen, zu verschwinden hinter den Lautstarken, ganz leise, Zeit zum Denken.

Nächstes Jahr sollen neue, letzte Erzählungen von Gernhardt erscheinen, Arbeitstitel: „Denken wir uns“. Spätestens dann wird er uns richtig fehlen.

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