Dem Herrn Paulsen sein Kiosk
Mittwoch, 29. März 2006
Ich werde wunderlich, Frau Dimbek brät ihren Wellensittich und das Wetter bleibt trocken über dem Rhein-Main-Gebiet

Ich werde wunderlich. Mit zunehmendem Alter häufen sich Marotten, Spleens und Wunderlichkeiten. In meinem Fall beglückte mich das Leben bislang mit einer ausgewachsenen Hundephobie deren Ursache im Dunkel liegt. Ich bin, besonders jungem Servicepersonal gegenüber, ungeduldig, schlage gern Mal einen altväterlichen Ton an und klinge dann wie ein verstockter Gerhard Schröder am Wahlabend. Ich werde immer pingeliger mit meiner Plattensammlung und entdecke die befriedigende Wirkung der strengen Mülltrennung. Wenn ich auf dem Handy telefoniert habe, überprüfe ich mehrmals, ob ich auch wirklich aufgelegt habe, oder ob mein Gesprächspartner ab jetzt meinem Leben lauscht. Unmöglich ist mir mit der Zeit auch der Besuch eines kalten Buffets geworden, diese Art der öffentlichen Massenverpflegung lehne ich ab und gehe lieber hungrig heim. Ich behaupte aber auf Nachfrage, immer noch ein echter Rocker und Freigeist zu sein. Der Geist scheint sich aber eigene Bahnen zu suchen und es gibt zwei hübsche Neuzugänge in meiner Schrulligkeiten-Sammlung:

1. Ich bin beruflich viel mit dem Auto unterwegs und ich weiß nicht, wann das anfing, immer wenn ich auf der Heimfahrt die Stadtgrenze von Hamburg überquere, denke ich zwanghaft: Wenn du jetzt verunglückst, kommst du wenigstens in ein Hamburger Krankenhaus. Ich bin kein ängstlicher Typ, ich denke die gesamte Reise nicht über die Möglichkeit eines Unfalls nach, fahre einen flotten Reifen, wechsle bei Tempo 160 die CD während ich rauche und wenn es sein muss telefoniere ich dabei auch. Doch kaum passiere ich das rote Hamburgschild, zack: Wenn du jetzt verunglückst, kommst du wenigstens in ein Hamburger Krankenhaus. Schön auch der Versuch, das zu unterdrücken: Oh, da vorn, Hamburgschild, du denkst jetzt mal nicht, dass wenn du jetzt verunglückst, du wenigstens in ein Hamburger Krankenhaus kommst!

2. Wirklich umgehauen hat mich aber folgende Beobachtung, die mir im Rahmen einer größeren Mail-Aussendung gelang. Ich lächle beim E-Mail schreiben. Ich schreibe also geschätzten Menschen eine Mail freundlichen Inhalts und lächle dabei. Sitze grinsend vor dem Computer und das Lächeln erstirbt erst wenn ich den Send-Button gedrückt habe. Mahnende Mails an nicht so geschätzte Menschen werden von gerunzelten Augenbraun und strenger Mine begleitet. Die Inhalte der Mails werden also von mir mimisch unterstützt.

Ich finde, dass sind zwei echte neue Klopper in der Wunderlichkeiten-Kiste. Tröstlich nur, dass ich nicht allein bin. Auch bei Freunden und Bekannten entdecke ich, im Hochsommer des Lebens, oft bemerkenswert komische Ritualisierungen des Alltags und einen Hang zu schleichender Verspießung, gepaart mit zunehmender Verstockung in Teilbereichen.

Schon im Mittelalter derartig zu Vergreisen, lässt nichts Gutes hoffen, es wird ja nicht besser! Die erste wunderliche Person, an die ich mich erinnern kann, war die alte Frau Dimbek, die ihren Lebensabend im Haus meiner Großeltern verlebte. Unermüdlich sang sie, wenn sie nicht gerade gellend schrie oder imaginäre Tiere von den Stufen des Treppenhauses auflas und unter wüsten Beschimpfungen in den Garten trug. Ich selbst, ein Fünfjähriger in Todesangst, wenn ich Frau Dimbek begegnete. Irgendwann briet Frau Dimbek ihren Wellensittich in etwas aufgeschlagenem Ei kross an (der Vogel sei in das Rührei geflogen, so die offizielle Bekanntmachung) und die Großeltern mussten fortan öfter nach ihr sehen, während ich in der unteren Wohnung dem Doktor Schiwago aus einem zierlichen Musiktischchen lauschte, zur Beruhigung.

Als Frau Dimbek starb, war ich sehr einverstanden. Blöd nur, dass meine Eltern ein halbes Jahr nach Frau Dimbeks Beerdigung eine längere Reise nach Afrika antraten und mich bei den Großeltern unter brachten. Die frisch renovierte Wohnung der Frau Dimbek gehört mir allein. Nachts lag ich zusammengekauert unter dicken, duftenden Daunenbergen und wartete auf Frau Dimbek, die ja sicher wusste, dass ich mich über ihren Tod gefreut hatte. Einen kleinen Spalt der schweren Decke ließ ich offen, von dort konnte ich auf die matt erleuchtete Drehscheibe des kleinen Radios sehen und die Städtenamen ablesen, London, Paris, Berlin, Frankfurt. Die Nadel stand immer auf Frankfurt, von dort kam schöne Musik, wie ich fand, und ab und zu sprach ein Mann mit sehr tiefer Stimme in einer fremden Sprache und ich wusste, solange Frankfurt sendet, kann Frau Dimbek nicht kommen. „Se wesser is drei ower se reinmein ärea“, sagte der Mann zwischen den Liedern oft und ich wiederholte den Satz dann mit tiefer Stimme, ein Mantra, mein erster englischer Satz, schwitzend im Deckendunkel, es war tatsächlich ein sehr heißer, trockener Sommer.

Es bleiben mir noch fünfzig Jahre bis ich Frau Dimbeks Alter erreiche und sofern mich nicht an einem öffentlichen Büffet, fernab von einem Hamburger Krankenhaus der Erstickungstod ereilt, bleibt zumindest auch der hübsche Gedanke, dass Menschen an ihren Computern sitzen, ihre Mails checken und denken: Hach, die Mails von Paulsen, die lächeln immer so schön.

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